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Gyne 03/2016 – Für immer müde? Fatigue bei Krebspatienten – Erscheinungsformen, Ursachen, Behandlung

Gyne 03/2016
Für immer müde?  Fatigue bei Krebspatienten
Erscheinungsformen, Ursachen, Behandlung

Autorin: Susanne Ditz

 

Der Begriff „Fatigue“ wurde aus dem französischen und englischen Sprachgebrauch ins Deutsche übernommen. Eine Definition aus den USA von David F. Cella lautet: „Die Tumorerschöpfung, auch Fatigue genannt, bedeutet eine außerordentliche Müdigkeit, mangelnde Energiereserven oder ein massiv erhöhtes Ruhebedürfnis, das absolut unverhältnismäßig zu vorangegangenen Aktivitätsänderungen ist“ [1]. Die  Tumor-assoziierte  Fatigue (Cancer-related fatigue, CrF) ist nicht selten eine alles überschattende, subjektive Erfahrung, die den gesamten Tagesablauf beeinträchtigen kann. Viele PatientInnen scheinen darunter mehr zu leiden als unter Schmerzen oder psychischen Begleiterscheinungen. Ihr chronischer Verlauf reduziert die Lebensqualität der Betroffenen erheblich, kann zu verminderter Therapietreue und sogar zum Abbruch der Behandlung führen.

Es werden drei Dimensionen der CrF unterschieden:

  • die physische
  • die emotionale und
  • die kognitive Müdigkeit

Dieser multisymptomatische Zustand der Erschöpfung tritt bei Krebspatienten häufig in Zusammenhang mit oder nach systemischen Therapien auf sowie während oder nach Bestrahlungen, kann aber auch im Krankheitsverlauf ohne diese entstehen. Die Ausprägung des CrF ist ebenso individuell wie seine Dauer und abhängig von der Ausgangssituation (körperlicher/ mentaler Status), der psychischen Grundhaltung und der individuellen subjektiven Wahrnehmung.


Prävalenz der CrF

Die Dominanz von Fatigue wird in der Literatur sehr divergierend beschrieben und ist abhängig vom Fatigue-Diagnoseinstrument, dem Erkrankungszeitpunkt und der Tumorentität [2, 3, 4]. Bei der Interpretation epidemiologischer Zahlen zur  Tumor –assoziierten  Fatigue   ist zu bedenken, dass CrF zwar durch eine charakteristische Gruppe von Symptomen gekennzeichnet ist, aber keine nosologische Einheit darstellt. In epidemiologischen Studien wird daher die Häufigkeit der CrF mit Hilfe von Selbsteinschätzungsfragebögen untersucht. Da allerdings sehr unterschiedliche Fragebögen eingesetzt werden und die Feststellung, ab welcher Ausprägung die angegebenen Beschwerden als CrF betrachtet werden, nicht einheitlich sind, schwanken die Ergebnisse zur Prävalenz zum Teil erheblich. In einer Längsschnittuntersuchung einer repräsentativen Stichprobe in Deutschland zur CrF wiesen 32 % der Krebspatienten bereits bei stationärer Aufnahme, 40 % bei Entlassung und 36 % nach 6 Monaten, deutlich stärkere Müdigkeits- und Erschöpfungssymptome auf als eine gesunde Vergleichsgruppe. Fatigue wurde in dieser Studie mit der sog. „Multidimensional Fatigue Inventory“ (MFI) gemessen (Subskala „generelle Fatigue“ [5].

 

Erklärungsmodell

Es gibt kein einheitliches Erklärungsmodell über die genauen Ursachen tumorassoziierter Fatigue. Alle Erklärungsmodelle zur Ursache und Entstehung von Müdigkeits- und Erschöpfungssyndromen gehen von einem multifaktoriellen und multikausalen Geschehen aus [6]. Bei der CrF können diese durch den Tumor bedingt oder Folge der Therapie sein; aber auch Ausdruck einer genetischen Disposition, begleitender somatischer oder psychischer Erkrankungen, wie auch verhaltens- oder umweltbedingter Faktoren. Damit ergibt sich eine breite Palette möglicher Ursachen und Einflussfaktoren somatischer, affektiver, kognitiver und psychosozialer Art, die zu der gemeinsamen Endstrecke Fatigue führen.

Als zugrunde liegende pathophysiologische Faktoren werden diskutiert:

  • Störungen der zirkadianen Melatoninsekretion und des Schlaf-Wach-Rhythmus
  • Dysregulation inflammatorischer Zytokine
  • Veränderungen im serotoninergen System des ZNS
  • Störung hypothalamischer Regelkreise sowie
  • Genpolymorphismen für Regulationsproteine der oxidativen Phosphorylierung der Signaltransduktion in B-Zellen, der Expression proinflammatorischer Zytokine und des Katecholaminstoffwechsels [7].

Symptome und Erfassung

Fatigue kann als Sammelbegriff verstanden werden, der eine Vielfalt vonMüdigkeitsmanifestationen umfasst, welche sich in überwiegend physische, aber auch in affektive und kognitive Sensationen klassifizieren lassen ( Tab. 1). Entsprechend der Leitlinie des National Comprehensive Cancer Network (NCCN) sollte  im Rahmen der onkologischen Betreuung Symptome der Erschöpfung oder Müdigkeit bei allen TumorpatientInnen gezielt exploriert werden. Dabei sollte beachtet werden, dass die subjektiv geäußerten Beschwerden häufig nicht objektivierbar sind; wenn doch, erreichen sie selten den von PatientInnen geäußerten subjektiven Schweregrad. Ergänzend zur Objektivierung kann das Führen eines Symptomtagebuchs empfohlen werden. Als Screeninginstrumente lassen sich eine lineare Analogskala (LASA-Skala Bereich 0-10) oder dafür geeignete diagnostische Fragebögen einsetzen [8]. Die zentrale Rolle in der diagnostischen Vorgehensweise nimmt das anamnestische Gespräch ein, in welchem genau die Art, Ausprägung und der zeitliche Verlauf der Beschwerden erfragt und auf mögliche Zusammenhänge mit vegetativen Funktionen geachtet werden sollte, wie z. B.:

  • Körperliche Aktivität
  • Schlafverhalten
  • Medikation
  • Gebrauch von Genuss- und Rauschmitteln

Kriterien klinischer Diagnostik von Fatigue

Fatigue wird bei Krebspatienten oft nicht erkannt oder zu wenig beachtet. Von der American Fatigue Coalition wurde ein Symptomkatalog veröffentlicht, um die Erfassung von Fatigue zu vereinheitlichen. Zur Feststellung einer CrF kann dieser Kriterienkatalog wie folgt herangezogen werden: Sechs (oder mehr) der elf in Tab.  2 aufgeführten Symptome bestanden täglich bzw. fast täglich während einer Zwei-Wochen-Periode im vergangenen Monat und mindestens eines der Symptome ist deutliche Müdigkeit (A1). Wenn sechs der aufgeführten Symptome vorliegen, gilt ein Fatigue-Syndrom als gesichert. Dabei müssen die Kriterien B, C und D vom behandelnden Arzt beurteilt werden.

Ursachen und differentialdiagnostische Abklärung

Grundsätzlich müssen sich Arzt und Patient darüber im Klaren sein, dass es nicht immer gelingt, der Müdigkeit eine greifbare Ursache zuzuordnen. Bei der differentialdiagnostischen Abklärung müssen somatische Erkrankungen von Leber, Niere, Endokrinum und Knochenmark ebenso ausgeschlossen werden wie tumorbedingte Ursachen (z. B. Schmerz, Mangelernährung, Elektrolytstörungen etc.,Tab. 3). Die Erfahrung im Umgang mit CrF-Patienten zeigt, dass bei vielen keine eindeutige psychosoziale oder somatische Ursache identifiziert werden kann. Dies darf aber nicht dazu führen, dass die Beschwerden von Ärzten und  Therapeuten als nicht „legitim“ abgetan werden. Vielmehr ist es gerade in diesen Situationen wichtig, die Symptome und Belastungen ernst zu nehmen und Gesprächs- und Handlungsbereitschaft zu signalisieren.

Fatigue und/oder Depression erkennen

Neben Angst stellt Depression die häufigste seelische Begleiterkrankung bei malignen Tumorleiden dar. Aus therapeutischer Sicht erscheint es notwendig, bei Patienten mit einer Müdigkeitssymptomatik zu unterscheiden, welcher Anteil daran auf eine primäre Tumorfatigue zurückgeht, in wieweit sich eine depressive Entwicklung dahinter verbirgt oder ob beide Aspekte zusammenwirken. Die differentialdiagnostische Abgrenzung von der Depression und/oder der depressiven Krankheitsverarbeitung fällt häufig schwer. Der Übergang ist eher fließend, da nahezu jedes Merkmal des chronischen Fatigue-Syndroms auch bei der Depression wieder zu finden ist. Die Tumorentität und die Art der Behandlung können dabei Anhaltspunkte geben. Es wurde festgestellt, dass Fatigue bei Patienten mit depressiver Stimmungslage häufiger und mit größerer Intensität auftritt, aber auch, dass Fatigue eine Depression induzieren und verstärken kann. Eine klare Unterscheidung zwischen Depression und Fatigue ist somit nicht immer vollständig möglich.  Die Vorgeschichte des Patienten gibt Hinweise darauf, in wieweit es bereits früher Episoden einer depressiven Verstimmung gegeben hat oder ob das Müdigkeitsgeschehen erstmalig im Kontext der Tumorerkrankung aufgetreten ist und einer depressiven Verstimmung vorausging. Wenn die Antriebsminderung stark ausgeprägt ist und andererseits auffällige Tendenz zur Selbstentwertung mit Suizidgedanken vorliegt, spräche diese Symptomatik für ein depressives Geschehen. Überwiegend körperlich empfundene Erschöpfung und Schwäche trotz ausreichenden Schlafes sind eher charakteristisch für das Fatigue-Syndrom. Das Vorliegen von Depressionen in der Anamnese, betonte Antriebsminderung, fehlende Motivation, Schlaflosigkeit, tageszeitliche Schwankungen, Tendenz zur Selbstentwertung, schuldhafte Verarbeitung und Suizidalität sind richtungweisend für das Vorliegen einer Depression [9]. Zudem können psychische Faktoren wie starke Ängste in Bezug auf die Erkrankung, eine fehlende Unterstützung in der Familie oder Partnerschaft, drückende finanzielle Sorgen oder anderer schwerer Kummer den Patienten so belasten, dass er in einen starken Erschöpfungszustand gerät. Die Symptome der Fatigue können auf eine hintergründige Depression („Erschöpfungsdepression“) oder Angststörung hinweisen und/oder sich mit den Symptomen einer körperlichenErschöpfung überlappen. In nahezu allen Untersuchungen korrelieren Müdigkeits- und Erschöpfungssymptome mit denen einer Depression . Das ist nicht verwunderlich , weil Ermüdbarkeit und Antriebsmangel zu den Hauptsymptomen depressiver Störungen zählen. Für die rasche und sensitive Erkennung einer depressiven Störung als mögliche Ursache einer CrF empfiehlt sich in der Praxis der „2-Fragen-Test“.

Frage1:  „Fühlten sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig, bedrückt oder hoffnungslos?“

Frage 2: „Hatten sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die sie sonst gerne tun?“

Wenn beide Fragen mit „Ja“ beantwortet werden, liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine depressive Störung vor, die weitergehend abgeklärt und behandelt werden sollte [10]. Manchmal bedarf es auch erst der Verlaufsbeobachtung unter therapeutischen Maßnahmen, um klarer zwischen Depression und Fatigue unterscheiden zu können.

Fatigue und/oder Depression behandeln

Aus therapeutischer Sicht erscheint es heute notwendig, bei Patienten mit einer Müdigkeitssymptomatik eindeutig zu differenzieren. Welcher Anteil geht dabei auf eine primäre Tumorfatigue zurück und inwieweit verbirgt sich eine depressive Entwicklung dahinter? Oder wirken sogar beide Aspekte zusammen? So ist vielfach beobachtet worden, dass Fatigue bei Patienten mit depressiver Stimmungslage häufiger und stärker ausgeprägt auftritt und  tatsächlich eine Depression induzieren oder verstärken kann. Interventionsstudien mit Antidepressiva haben bislang keine Verbesserung der CrF gezeigt und sollten deshalb nur bei klarer Abgrenzung beziehungsweise eindeutiger Depressions-Diagnose eine Behandlungsmöglichkeit darstellen.

Multimodale Therapieansätze von Fatigue

Durch normale Erholungsmechanismen, wie z. B. Schlaf, lässt sich die Tumorerschöpfung nicht beheben. Entscheidend für die effektive Behandlung sind interdisziplinäre Therapiestrategien. Für Teilaspekte von Fatigue gibt es vielversprechende Behandlungsansätze, doch bisher war es nicht möglich eine umfassende Therapie zu entwickeln,  mit der Fatiguebetroffene Patienten zufriedenstellend behandeltwerden können.  So multifaktoriell die Symptome der Fatigue beschrieben werden, so unterschiedlich sind auch die therapeutischen Ansätze. Je nach Ursache ist ein Behandlungsplan aufzustellen, der die besonderen individuellen Gegebenheiten des Betroffenen  berücksichtigt (Tab.3). Körperliche oder psychische Erkrankungen mit dem Begleitphänomen Fatigue müssen gezielt kausal behandelt werden [11]. Zur Behandlung der CrF werden aktuell Medikamente mit sehr unterschiedlichen Wirkprinzipien eingesetzt [12]:

  • Bluttransfusionen,
  • die Erythropoese stimulierende Faktoren,
  • Psychostimulantien (z. B. Methylphenidat oderModafinil),
  • Kortikosteroide

Körperliches (aerobes) Training

In allen Phasen der Krebserkrankung ist ab dem Zeitpunkt der Diagnosestellung bis zur palliativen Situation für Patienten, die dazu in der Lage sind, dosiertes Bewegungstraining unter kontrollierten Bedingungen indiziert. Die Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP) und die Deutsche Krebsgesellschaft e.V. (DKG) haben bereits 2011 Richtlinien für die Gestaltung von Trainings-und Sportprogrammen für Tumorpatienten veröffentlicht. Sport- und Bewegungstherapie vermindert Fatigue, steigert die Immunabwehr, regt die Blutbildung an, beugt Infektionen vor, erhält die Muskelmasse und verbessert die Herz-Kreislauf-Funktion. Die Komorbidität kann durch regelmäßige Bewegung verringert, die Verträglichkeit der Therapiemaßnahmen verbessert werden. Darüber hinaus korreliert die physische Aktivität von Krebspatienten in einigen Studien mit einer verringerten Rezidivrate [13] Insgesamt kann durch Sport- und Bewegungstherapie die Lebensqualität erhöht werden.

Dennoch wird auch heute nochPatienten aufgrund der Belastung durch die Krebserkrankung und deren Behandlung von einer zu starken körperlichen Aktivität abgeraten. Dies führt in Folge dessen zu Bewegungsmangel und zu einer Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit mit folgenden Symptomen

  • Verringerung der Muskelmasse und des Plasmavolumens
  • Reduzierung der in der Muskelmasse gespeicherten chemischen Energieträger
  • Abnahme der kardiorespiratorischen Leistungsfähigkeit

Aufgrund der schnelleren Erschöpfbarkeit reduzieren Betroffene häufig die körperliche Aktivität weiter und vermindern damit ihre  Leistungsfähigkeit.So entsteht ein gefährlicher Teufelskreis aus den Nebenwirkungen der medizinischen Behandlung und den negativen Folgen des Bewegungsmangels. Körperliches (aerobes) Training als therapeutische Maßnahme gegen Fatigueist daher klar indiziert [14]. Besonders die Effizienz eines aeroben Ausdauertrainings wie z. B. Walken, Nordic Walken, Joggen, Aquatraining und Schwimmen zur Behandlung des Fatigue-Syndroms konnte in verschiedenen Studien bestätigen werden [15]. Aerobes Training ist inzwischen ein etablierter Ansatz zur Behandlung eines krankheitsbedingtenLeistungsverlustes. Es erfüllt drei Voraussetzungen:

  • Große Muskelgruppen werden bewegt
  • die Belastungsintensität liegt zwischen 70 bis 80 % der maximalen Belastbarkeit (die Energiebereitstellung erfolgt über den aeroben Stoffwechsel)
  • die Belastung erstreckt sich über eine ausgedehnte Zeit

In Deutschland liegen bislang nur wenige konkrete Übungsprogramme vor, die eigenständig von den Betroffenen durchgeführt werden können. Die Empfehlung liegt bei mindestens 30 Minuten Ausdauersportarten, wie z. B. schnelles Gehen, Joggen oder Fahrradfahren an mindestens fünf Tagen pro Woche [15].. Adaptiert an den Behandlungsstatus (Operation, medikamentöse Therapie oder Strahlentherapie) sollte in Zusammenarbeit mit erfahrenen Physiotherapeuten und Sportwissenschaftlern ein spezielles patientenindividuelles Programm erstellt werden. Das Training sollte langsam beginnen und möglichst Flexibilitäts-, Ausdauer-, Kraft- und Koordinationskomponenten in Abhängigkeit von der Krankheitsphase, dem Trainingsziel und den individuellen physischen Möglichkeiten der Patienten enthalten [16].

Etabliert ist das Übungsprogramm „Fitness trotz Fatigue – Bewegung und Sport bei tumorbedingtem Müdigkeitssyndrom“, welches von der „Deutschen Fatigue Gesellschaft“ in Zusammenarbeit mit der „Rehabilitationswissenschaftlichen Abteilung der Sportschule Köln“ entwickelt wurde. Zwar haben sich Sport- und Bewegungsprogramme als unterstützende Maßnahmen während oder unmittelbar nach der Behandlung etabliert, aber sind bisher noch  nicht flächendeckend in die onkologische Versorgung integriert.

Psychoonkologische Beratung und Begleitung

Die Psychoonkologische Beratung vermittelt Betroffenen mit Fatigue-Syndrom einerseits Sachinformationen, wie z. B. zu demKrankheitsentstehungsmodell sowiezu den Ursachen, Formen unddemVerlauf der Fatigue und ist andererseits als Orientierungshilfe anzusehen. Ziel ist es, den Patienten dabei zu unterstützen, seinen Lebensstil und  Lebensführung an die veränderten individuellen Bedingungen anzupassen (Anleitung zur Verhaltensänderung). Die Beratung zur Prävention oder Linderung der Fatigue beinhaltet u. a.:

  • Hilfe bei der Umstrukturierung des früher normalen Tagesablaufes. Besonders die Tätigkeiten, die Energie kosten, müssen in die energetischen Hochphasen verlegt werden und sich mit Ruhephasen oder Energiespendern abwechseln (Stundenplan nach Aktivitätsniveau, strukturierte tägliche Routine, Prioritäten im Leben setzen). Der Einsatz eines Fatiguekalenders bietet dabei die Möglichkeit, die tageszeitlichen Energiekurven kennenzulernen und zu nutzen. Als Energiespender kommen beispielsweise Meditation und Yoga in Betracht.
  • Einbeziehen der Angehörigen in die Erarbeitung der verschiedenen Bewältigungsformen. Die Erschöpfung in ihren unterschiedlichen Ausprägungen stellt nicht nur für die Patienten, sondern auch für ihre Partner, Familie und Freundeskreis eine große Herausforderung dar. Gemeinsam können Muster erarbeitet werden, wie im täglichen Leben die Kräfte sinnvoll eingeteilt  und Energie eingespart werden kann.
  • Information zur Schlafhygiene, zur Stimuluskontrolle und zur Einteilung des Schlafes (z. B. keine langen Schlafperioden nachmittags, regelmäßig zu Bett gehen, kein Koffein etc.). Etablierung eines regelmäßigen Schlafrhythmuses, der beim Versagen allgemeiner Maßnahmen ggf. mittels Medikamenten zum Ein- bzw. Durchschlafen reguliert werden kann.
  • Anleitung zu Erholung und zum bewussten Einsatz von Ablenkungsstrategien: z. B. Naturerlebnisse, Musik hören, Spiele etc. verbessern das Konzentrationsvermögen und die Problemlösefähigkeit (kognitive Fatigue).
  • Aufklärung über Schulungsmaßnahmen bei der Einschränkung kognitiver Fähigkeiten (das Gehirn sollte wieder an Denkprozesse gewöhnt werden, einfache schulische Maßnahmen scheinen hier weiterzuhelfen).
  • Ernährungsberatung mit dem Ziel, Mangelernährung zu vermeiden oder zu behandeln (adäquate Nährstoffzufuhr, Elektrolytbalance, Flüssigkeitszufuhr).
  • Beratung der Patienten zur körperlichen Aktivitätssteigerung (u. a. Anleitung und Training zu aeroben Sportarten).

Die Anerkennung des Erschöpfungszustands als Befindlichkeitsstörung von Krankheitswert ist Basis für die psychoonkologische Beratung und Behandlung von Betroffenen  mit Fatigue-Syndrom. Für die Patienten ist die Einordnung von Fatigue im Kontext der Erkrankung sowie der sozialen Rollen und der Persönlichkeit von größter Bedeutung. Erst wenn der Betroffene dieses Symptom als erkrankungs- und therapiebedingt akzeptieren kann, wird er sich von schuldhafter Verarbeitung und Kränkung distanzieren können. Auf dieser Grundlage können im Weiteren individuelle Bewältigungsstrategien erarbeitet werden.

Psychoonkologische Interventionen: Motivationspsychologische Prinzipien

Grundlage der psychoonkologischen Interventionen von Patienten mit Fatigue-Syndrom sind die folgenden motivationspsychologischen Prinzipien:

  • Stärkung des Selbstmanagements. Die Patienten werden selbst in die Lage versetzt, das Maß an Selbstbestimmung und Autonomie im Zusammenhang mit dem Problem Fatigue zu erhöhen und eigene Ressourcen zu nutzen. Die Patienten erleben, dass sie zur Verbesserung ihrer Situation etwas beisteuern können.
  • Steigerung der Selbstwirksamkeitserwartung. Die Selbstwirksamkeitserwartung wird durch direkte Erfahrung gestärkt, indem sich die Patienten realistische Ziele setzen, die Umsetzung selbst überwachen und nach einem Feedback ihre Ziele oder ihr Vorgehen anpassen.
  • Ressourcenorientierung. Die Patientenwerden ermuntert, stärker als bisher sich ihrer Ressourcen bewusst zu werden und sie zu nutzen.
  • Einbeziehung des beruflichen und sozialen Umfelds (Partner, Familie und Freundeskreis).

Psychoonkologische Interventionen: Bewältigungsstrategien

Zielsetzung der psychoonkologischen Begleitung ist es, die Alltagshandlungsfähigkeit und Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Psychoonkologische Interventionen beim Fatigue-Syndom fokussieren vor allem auf:

  • Problemwahrnehmung. Die Patienten sollen die Fatigue als Problem wahrnehmen und die Hintergründe kennen.
  • Konsequenzen erkennen. Die Patienten sollen die Auswirkungen von Fatigue auf ihren Alltag und ihre sozialen Beziehungen erkennen.
  • Motivationsarbeit. Die Patienten sollen zur Änderung von Verhaltensweisen unter Berücksichtigung ihrer individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten motiviert werden.
  • Selbstwirksamkeitserwartung. Die Patienten sollen erkennen, dass sie selbst etwas zur Linderung der Fatigue und zur Verbesserung des Umgangs mit den von der Fatigue verursachten Einschränkungen beitragen können.
  • Handlungsplanung. Die Patienten sollen sich sowohl Ziele setzen, als auch deren Umsetzung planen und in Angriff nehmen.
  • Handlungskontrolle. Die Patienten prüfen die Umsetzung und berichten über Erfolge und Hindernisse bzw. Probleme.

Psychoedukative Schulungsprogramme

Die Wirksamkeit strukturierter Schulungsprogramme bei CrF wurde bisher nur wenig untersucht [17]. Es mangelt an prospektiven Untersuchungen mit ausreichend hohen Fallzahlen, die psychoedukative Schulungsprogramme evaluieren [18]. Spezifische Schulungen, die dem Bedürfnis der Patienten nach gezielter Aufklärung und Information entgegenkommen und die tumorbedingte Fatigue reduzieren sowie die Lebensqualität der Betroffenen steigern sollen, sind in Deutschland derzeit (noch) nicht etabliert. Hier besteht eine erhebliche Versorgungslücke! Es ist z. T.  bekannt, dass vorhandene Informationsmaterialien Patienten entweder nicht erreichen oder die Information ohne eindeutige Anleitung nicht angemessen individuell umgesetzt werden können. Die Einführung eines spezifischen Schulungsprogramms könnte einerseits durch angemessene Information und andererseits durch individuelle Hilfestellung und praktische Anleitung bei der Umsetzung, d.h. bei der Verhaltensänderung der Betroffenen, zukünftig Abhilfe schaffen.

Zusammenfassung

Fatigue ist ein häufiges, vielfach stark unterschätztes Syndrom bei Tumorpatienten. Die Ursachen und die Entstehung der CrF sind komplex. Sie ist gekennzeichnet durch abnehmende Leistungsfähigkeit, Vermeidung von Anstrengung, Inaktivität, fehlende Regeneration, Hilflosigkeit und Herabgestimmheit. Die Betroffenen finden nur schwer aus diesem Teufelskreis heraus. Die  vollständige Beeinträchtigung des Patienten spiegelt die Multidimensionalität dieses Phänomens wieder. Die Wahrnehmung von Fatigue-Manifestationen und das alltägliche Screenen – respektive die Nachfrage nach Müdigkeit – sollte routinemäßig zur onkologischen Versorgung gehören.

Ein umfassendes Angebot zur Behandlung der multifaktoriell ausgeprägten Fatigue einschließlich der psychischen, emotionalen und kognitiven Facetten fehlt bisher im klinischen Alltag. Für Teilaspekte von Fatigue gibt es inzwischen vielversprechende Therapieansätze, doch fehlt aktuell ein umfassender Therapieansatz, mit der Fatigue zufriedenstellend behandelt werden kann. Die Therapie gliedert sich in Aufklärung, praktische Hilfestellungen, Umstellung der Lebensgewohnheiten und medikamentöse Ansätze. Dabei sollten die Angehörigen der Patienten unbedingt mit eingebunden werden, um die Akzeptanz zu erhöhen und so den Therapieerfolg zu sichern.

Vorhandene Informationsmaterialien erreichen die Betroffenen häufig nicht. Insbesondere fehlen strukturierte psychoedukative Schulungs- bzw. Interventionsangebote, um spezifisches Wissen zu vermitteln und Anleitung zu Verhaltensänderungen zu geben.

Weiterführende Informationen

Deutsche Fatiguegesellschaft e.V.
Maria-Hilf-Straße 15
50677 Köln
T +49 221 9311596
www.deutsche-fatigue-gesellschaft.de

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Literatur

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  2. Alexander et al., Evaluation of screening instruments for cancer-related fatigue syndrome in breast cancer survivors.J Clin Oncol. 2009 Mar 10;27(8):1197–1201.
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  5. Singer et al., Age-and sex- standardised prevalence rates of fatigue in a large hospital-based sample of cancer patients. Br J Cancer. 2011 Jul 26;105:445-51
  6. Piper et al.; Fatigue mechanisms in cancer patients: Developing nursing theory. Oncol Nurs Forum. 1987 Nov-Dez;14(6):17–23.
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  8. Minton and Stone, Systematic review of the scales used for the measurement of cancer-related fatigue (CRF). AnnOncol. 2009 Jan;20(1):17–25.
  9. Kim et al. Prevalence and correlates of fatigue and depression in breast cancer survivors: Breast cancer quality care study. J Clin Oncol. 2006 Jun;24(18S):683.
  10. Heim M, und Weis J. Fatigue bei Krebserkrankung. Schattauer GmbH, Stuttgart, 2014, 205 S.
  11. Cella D F. Factors influencing quality of life in cancer patients: anemia and fatigue. Semin Oncol. 1998 Jun;25(3 Suppl 7):43-6.
  12. Lundström and Fürst.The use of corticosteroids in Swedish palliative care. Acta Oncol. 2006;45:430–-7.
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  13. Wolin et al. Physical Activity and Colon Cancer Prevention: A Meta-analysis. Br J Cancer. 2009 Feb 24;100:611–616.
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  17. Yates et al. Randomized Controlled Trial of an Educational Intervention for Managing Fatigue in Women Receiving Adjuvant Chemotherapy for Early-Stage Breast Cancer. J Clin Oncol 2005 Sep 1;23(25):6027–-36.
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  20. Deutsche Krebsgesellschaft (Hrsg.) Sport und Krebs. Kann man dem Krebs davonlaufen? FORUM, Band 26, Ausgabe 03.2011.Kim S H, Park B W, Ahn S H,
    1. National Comprehensive Cancer Network (2008) Cancer-related Fatigue-Guidelines. V.I. www.nccn.org.
  21. Siegmund-Schultze N (2009) Onkologie: „Sport ist so wichtig wie ein Krebsmedikament“. Dtsch Arztebl 106 (10): A-444.

Gyne 02/2016 – Psychosomatischer Umgang mit chronischen Unterleibsschmerzen

Gyne 02/2016
„Irgendwoher muss es doch kommen!“ – Psychosomatischer Umgang mit chronischen Unterleibsschmerzen

Autorin: Claudia Schumann

 

Ein typisches und häufiges Beschwerdebild in der Praxis sind anhaltende Schmerzen ohne eindeutige somatische Erklärung. Dabei überwiegen die weiblichen Patientinnen. Als Ursachen für diesen Geschlechterunterschied werden „v.a. geschlechtsspezifische Unterschiede in der Assoziation mit psychischen Störungen und Traumata, in der Verarbeitung, Interpretation und Kommunikation von Körperreizen, in der Entwicklung von Krankheits- und Gesundheitskonzepten und –verhalten“ angenommen [1]. Prävalenz-Erhebungen aus den USA zeigen, dass 15% aller Frauen von chronischem Unterbauchschmerz betroffen sind [2], für Europa werden ähnliche bzw. eher noch höhere Zahlen vermutet  [3]. Auf die Mehrzahl dieser Frauen passt die Definition der „somatoformen Schmerzstörung“ nach ICD 10 / F 45.4: „ Die vorherrschende Beschwerde ist ein andauernder (mehr als sechs Monate), schwerer und quälender Schmerz, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Er tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Belastungen auf,  die schwerwiegend genug sein sollten, um als entscheidende ursächliche Faktoren gelten zu können.“ 

Die Schmerzen quälen nicht nur die Betroffenen, sie machen auch die behandelnden Ärzte und Ärztinnen oft ratlos: Was tun? Wie umgehen mit dem Erwartungsdruck? „Patienten sind oftmals frustriert und verunsichert, da sie unter den Beschwerden zum Teil erheblich leiden, es aber scheinbar keine Erklärung bzw. Behandlung für sie gibt, und Behandler befürchten, eine ernsthafte somatische Erkrankung zu übersehen“ – heißt es im einleitenden Statement der S3-Leitlinie „Nicht spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden“.
Im Folgenden beschränke ich mich auf den chronischen Unterbauchschmerz, eines der häufigsten Schmerzsyndrome bei Frauen im fertilen Alter. Dabei geht es mir vor allem um die „Fallstricke“ der Arzt-Patientin-Beziehung, die Einschätzung des Schweregrades  und um konkrete Strategien für die Praxis.
Bezugsrahmen der Ausführungen sind vor allem die aktuellen Leitlinien allgemein zu den somatoformen Schmerzstörungen [4,5] und speziell zum chronischen Unterbauchschmerz [6].

Kasuistik 1: „Ich hoffe, SIE können mir endlich helfen!?“ – Teil 1

Lena S., 21 Jahre, hat wegen ihrer starken Unterleibsschmerzen in den letzten zwei Jahren schon drei Laparoskopien hinter sich. Die Diagnose Endometriose ist histologisch gesichert, kleinere Endometriose-Herde wurden operativ entfernt. Die Schmerzen treten trotzdem immer wieder auf. Fünf Gynäkologen hat sie konsultiert, zuletzt einen „Spezialisten“ in der 100km entfernten Großstadt. Auch der hatte keine Lösung parat. Jetzt sitzt sie mit akuten Schmerzen zum ersten Mal erwartungsvoll in meiner frauenärztlichen Praxis: „Sie sollen sich ja mit Endometriose auskennen!“ Sie hat eine lange Liste der verschiedenen Hormonpräparate dabei, nichts habe auf Dauer geholfen; die Hormonspirale wurde wegen Dauerblutung und Schmerzen nach drei Monaten wieder gezogen. Die Ausbildung hat sie wegen der Fehlzeiten abbrechen müssen, auch stundenweise Jobs schafft sie nicht, sie ist dauernd erschöpft und der Freund hat sich getrennt. Jetzt lebt sie allein, finanziell unterstützt vom Arbeitsamt.

Lena S. ist eine schlanke hübsche sympathische junge Frau, die mit einem eingefrorenen Dauer-Lächeln ihre ganze Misere schildert: die lieblose Kindheit nach der frühen Trennung der Eltern, das frühe „Allein-gelassen-Sein“, als die Mutter mit dem neuen Partner zusammenzog und sie „nur störte“, die dauernde Entwertung und ihr Kampf dagegen. Dass man etwas gefunden hat als Ursache der Schmerzen– die Endometriose – findet sie gut; und ist enttäuscht, dass sich das nicht einfach wegmachen lässt. Am liebsten würde sie sich noch einmal operieren lassen. (Fortsetzung weiter unten)

Ätiologie und Risikofaktoren des chronischen Unterbauchschmerzes

Beim chronischen Unterbauchschmerz muss man eine Vielzahl möglicher körperlicher Ursachen bedenken: Endometriose, Myome, Adhäsionen, Ovarialcysten, Colon irritabile, maligne Erkrankungen, Reizblase, Rückenerkrankungen u.a.. Auch bei gründlicher Untersuchung incl. Bildgebung und Bauchspiegelung lässt sich oft kein eindeutiges Korrelat für die Beschwerden finden. Aber selbst wenn man eine körperliche Ursache – z.B. Endometriose-Herde – findet, gibt es oft genug eine Diskrepanz zwischen dem körperlichen Befund und der angegebenen andauernden Schmerzsymptomatik.

Dafür gibt es keine eindeutigen Erklärungen. Aber wir kennen Risikofaktoren für die Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms; dazu zählen vor allem Stressfaktoren in der Kindheit [1], die den Aufbau einer „sicheren Bindung“ beeinträchtigen, wie emotionale Vernachlässigung, psychische Erkrankung der Eltern, und auch Gewalterfahrung jeglicher Art. Für die Entwicklung speziell des chronischen  Unterbauchschmerz werden in einer großen  Metaanalyse [2] körperliche wie seelische Risikofaktoren benannt: Adhäsionen (nach Entzündung), Endometriose, Z.n.Sektio, Z.n.Abort, körperlicher oder seelischer Missbrauch, Angst, Depression. Kein Zusammenhang wurde nachgewiesen mit Ausbildungsstand, Familienstand, Erwerbstätigkeit, Parität, und Infertilität. Abschließend bedeutet das für die Diagnostik, dass körperliche wie seelische Faktoren in gleicher Weise im Auge behalten werden müssen.

Die Beziehung zwischen Patientin und Ärztin/Arzt

Die Behandler-Patientin-Beziehung wird oft schon von Anfang an und von beiden Seiten als schwierig erlebt. Typischerweise werden folgende Gefühle beim Behandler ausgelöst [5]:

  • Hilflosigkeit, Unsicherheit, Ratlosigkeit, Scheitern
  • Gefühl, erst idealisiert und dann entwertet zu werden
  • Entscheidungsdruck, Getäuscht-Fühlen, Entlarven-Wollen; sich unter Druck gesetzt fühlen
  • Machtkampf, Ohnmachtserleben, Manipulation
  • Langeweile, Ungeduld, Enttäuschung, Wut, Ärger,
  • Frustration, Ablehnung der Patientin; Wunsch, sich zu entziehen.

Das muss man wissen, bedenken und sich darauf einstellen bzw. die Gegenübertragung bewusst nutzen! Der Aufbau einer (trotzdem) tragfähigen Beziehung schon bei der Anamnese ist das A und O der Behandlung. Dabei geht es um eine „gelassene, empathische, aktiv-stützende, symptom- und bewältigungsorientierte Grundhaltung“ [7], kurz:  ein professionell-gelassener Umgang mit der „schwierigen Patientin“. Wenn das nicht gelingt besteht die Gefahr des „doctor-hoppings“ (wie bei der von mir geschilderten jungen Frau), weil die Patientin sich immer wieder un- oder falsch verstanden fühlt und ihre (unrealistisch) hohen Erwartungen nicht erfüllt, aber auch nicht auf ein realistisches Maß reduziert werden.
Die Beschwerden sollten ausführlich geschildert und ernst genommen werden, im Sinn des „aktiven Zuhörens“ sollten Interesse und Akzeptanz signalisiert werden. „Mit psychosozialen Themen soll zunächst beiläufig und indirekt statt konfrontativ umgegangen werden, zum Beispiel durch das Begleiten des Wechsels zwischen Andeuten psychosozialer Belastungen und Rückkehr zur Beschwerdeklage  (“tangentiale Gesprächsführung“) [5]. Zusätzlich zu den spontan geschilderten Körperbeschwerden sollte gezielt nach anderen Leitsymptomen der somatoformen Schmerzstörung gefragt (chronische Müdigkeit, diffuse Rückenschmerzen u.a.) und die „Funktionsfähigkeit im Alltag“ eruiert werden.

Simultan-Diagnostik: bio-psycho-sozial

Im Sinne einer bio-psycho-sozialen Grundhaltung sollte immer eine „Simultandiagnostik“ erfolgen, also ein „sowohl-als auch“ signalisiert werden statt einem „entweder-oder“. Laut Leitlinie gilt sogar: Ein „Abwarten somatischer Ausschlussdiagnostik trotz Hinweisen auf psychosoziale Belastungen ist kontraindiziert“ [5]. Der Zusammenhang zwischen Unterbauchschmerzen und Depression ist unklar: Zwar konnte in der WHO-Metaanalyse ein stat. signifkanter Zusammenhang zwischen Depression und Unterbauchschmerz nachgewiesen werden [2], andrerseits kann man auch die depressive Symptomatik als Reaktion auf den chronischen Schmerz interpretieren.
Gewalterfahrungen werden anamnestisch deutlich gehäuft gefunden, wobei die Datenlage   unterschiedlich ist. Einige Studien haben ergeben, dass 40–60% der Frauen mit chronischem Unterbauchschmerz ohne körperliches Korrelat in der Anamnese sexuell oder körperlich missbraucht wurden [8,9]. Eine prospektive Studie bei Kindern, die Opfer von Gewalttaten waren, ergab allerdings kein vermehrtes Auftreten ungeklärter Schmerzsyndrome [10]. Insgesamt ist gesichert, dass körperliche und/oder sexuelle Gewalterfahrung ein Risikofaktor für die Entwicklung eines chronischen Unterbauchschmerzes, aber der Zusammenhang nicht zwingend ist.

Auch wenn psychosoziale Belastungen eindeutig im Vordergrund zu stehen scheinen oder es sogar Hinweise auf eine sexuelle Traumatisierung gibt, darf die körperliche Abklärung nicht entfallen. Die Frau hat körperliche Schmerzen, sie erwartet und braucht eine Be-HAND-lung im wahrsten Sinne des Wortes. Eine sorgfältige körperliche Untersuchung, ergänzt um die gynäkologische Untersuchung incl. vaginalem Ultraschall sind oft aufschlussreich: Was tut wie weh? Welche Vorstellungen hat die Frau? Diffuse Ängste können oft schon in dieser Phase reduziert werden durch beruhigende Erklärungen.

Wichtig sind die Transparenz aller Untersuchungsschritte und die gemeinsame weitere Planung: Kann man zunächst abwarten, weil die Situation aktuell nicht bedrohlich bzw. die Beschwerden aushaltbar sind, oder ist eine weitere Abklärung notwendig? An erster Stelle steht hier die diagnostische Bauchspiegelung. Zusammen mit der Patientin wird geklärt, wann und warum  eine Bauchspiegelung sinnvoll und was dabei zu erwarten ist. So können Voroperationen oder Unterleibsentzündungen evtl. zu Verwachsungen geführt haben, eine starke Dysmenorrhoe kann Hinweis sein auf eine Endometriose; aber es kann sich auch trotz Schmerzen ein „Normalbefund“ finden.
Im Anschluss an die operative Diagnostik ist eine ausführliche Befundbesprechung wichtig mit einer Wertung der Befunde, denn die Korrelation zwischen „Befund“ und „Schmerz“ ist oft nicht eindeutig.

Gefahr der iatrogenen Chronifizierung

So sollte es sein – denn bekannt ist andererseits: Das ärztliche Behandlungsverhalten kann einen Beitrag leisten zur Chronifizierung der Symptomatik! Und viele Frauen haben schon eine Odyssee hinter sich und sind entsprechend verunsichert bzw. fixiert auf die Symptomatik durch eine rein somatische Behandlung. Zu den bekannten „iatrogenen Chronifizierungs-faktoren“ in Diagnostik und Therapie gehören [5]:

  • einseitiges biomedizinisches oder psychologisierendes Vorgehen
  • Über-Diagnostik, Überschätzen medizinischer Befunde,
  • Mangelnde oder stigmatisierende Information („Sie haben nichts“, „alles nur psychisch“)
  • Förderung passiver Therapiekonzepte (Operationen, Injektionen, Massage, lange Krankschreibung)
  • Unzureichende analgetische Behandlung; unkritische Verschreibung von suchtfördernden Medikamenten

Einschätzen des Schweregrads

Im Umgang mit Frauen mit chronischem Unterleibsschmerz ist es sehr hilfreich, nach prognostisch günstigen Faktoren („green flags“)  zu suchen bzw. nach Hinweisen für einen schweren Verlauf („yellow flags“)[11]. Denn in Abhängigkeit von diesen Hinweiszeichen kann man die weitere Behandlung besser planen.

Zu den „green flags“ gehören:

  • Aktive Bewältigungsstrategien (z. B. körperliches Training)
  • Gesunde Lebensführung (ausreichend Schlaf, gute Ernährung)
  • Sichere Bindungen; soziale Unterstützung
  • Gute Arbeitsbedingungen
  • Gelingende Arzt-Patientin-Beziehung
  • Klinische Charakteristika für einen eher schweren Verlauf („yellow flags“) können sein:
  • Mehrere Beschwerden (Unterleibsschmerz + chron. Müdigkeit + Kopfschmerz +..)
  • Häufige bzw. anhaltende Beschwerden (d.h. die Frau ist selten beschwerdefrei)
  • Dysfunktionale Gesundheits-/ Krankheitswahrnehmung (z.B. katastrophisierendes Denken); „Ärzte-hopping“
  • Deutlich reduzierte Funktionsfähigkeit, lange arbeitsunfähig, sozialer Rückzug
  • Hohe psychosoziale Belastung, wenig Sozialkontakte
  • Psychische Komorbidität (Depression, Angststörung)

Kasuistik 1, Teil 2

Nachdem sich im Verlauf von zwei weiteren kurzfristigen Terminen ein klareres Bild ihrer schmerzhaften Erkrankung und der bio-psycho-sozialen Zusammenhänge ergeben hat und wir uns einig sind, dass eine erneute Bauchspiegelung keinen Sinn macht, verabrede ich  mit Lena S.  regelmäßige beschwerde-unabhängige Termine im Abstand von wenigen Wochen. Das klappt  auch nach und nach, die „Not-Termine“ werden seltener.
Es gelingt in langen Gesprächen, den „Teufelskreis“ von Schmerz / Anstrengung / Überlastung/ Enttäuschung sichtbar zu machen, und vor allem mit ihr zusammen die Ziele zu begrenzen: Nicht schmerzfrei, aber doch wieder so stabil zu werden, dass sie eine Ausbildung anfangen kann. Begleitend zu diesen eher stützenden psychosomatischen Terminen läuft eine psychotherapeutische Behandlung bei einer Psychologin, bei denen Gewalterfahrungen in der Kindheit bearbeitet werden.
Um ein besseres Körpergefühl zu bekommen empfehle ich ihr eine stationäre Reha-Maßnahme in einer Einrichtung, die auf die Behandlung von Frauen mit Endometriose spezialisiert ist. Dort fühlt sie sich zwar leider nicht sehr wohl, weil sie „keiner ernst nimmt“(!) – aber sie hält die Zeit durch und beginnt mit einem leichten Konditions- und Sporttraining, außerdem lernt sie Entspannungs-Techniken. Danach schafft sie ein halbjähriges Praktikum in einer Verwaltung, wo die Mitarbeiter um ihre „Anfälligkeit“ wissen, sie mögen und es akzeptieren, dass sie gelegentlich bei starken Schmerzen schon mittags geht. Sie ist sehr stolz über diesen Erfolg und möchte im Anschluss eine Ausbildung  beginnen.

Immer wieder ist das zentrale Thema in unseren Gesprächen: „Was wollen Sie, was trauen Sie sich zu, was hilft oder tut gut, und vor allem: Wer hilft?“ Sie geht aktiver mit ihrer schmerzbedingten Einschränkung um und lernt, die „Lächel-Maske“ gelegentlich abzusetzen und sich auch einmal trösten zu lassen. Die Beziehung zu ihrem Freund läuft wieder, Sex tut allerdings immer noch weh. Bisher ist keine weitere Operation erfolgt. Allerdings hat sie den letzten Termin abgesagt: Weil sie ihn nicht mehr braucht? Oder weil sie zur nächsten Ärztin gewechselt hat?

Therapie

Die Therapieziele beim chronischen Unterbauchschmerz sind wie bei allen somatoformen Schmerzstörungen begrenzt: Verbesserung der Lebensqualität, Verhinderung von Chronifizierung bzw. Begleitung bei eingetretener Chronifizierung, um selbstschädigendes, leider oft iatrogen mitgetragenes Verhalten zu reduzieren (rezidivierende operative Eingriffe, riskante Therapien). Letztlich geht es darum, mit der Frau „zu einem erweiterten Erklärungsmodell“ zu kommen „hin zu einem biopsychosozialen Modell“ [7].

Wenn es gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, wenn die Frau sich einlässt auf regelmäßige Gespräche und akzeptiert, dass viele kleine Schritte nötig sind statt einer großen Lösung – ist schon sehr viel gewonnen.

Das ist gerade bei leichteren Verläufen zu erreichen im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung durch den betreuenden Frauenarzt/ die Frauenärztin oder den Hausarzt/ die Hausärztin. Es geht immer wieder darum, die Beschwerden ernst zu nehmen und sie anschaulich zu erklären als bio-psycho-soziales Syndrom: d.h. mit der Patientin die Faktoren zu finden, die die Schmerzen auslösen oder reduzieren können. Dabei ist wichtig zu betonen, dass die Symptome zwar belastend aber nicht gefährlich sind, dass es gilt damit einen adäquaten „gelassenen“ Umgang zu finden, und das der Behandler/ die Behandlerin dabei eine stabile verlässliche Begleitung anbietet. Hilfreich sind alle Möglichkeiten der körperlichen Aktivierung – leichter Ausdauer-Sport, Yoga, autogenes Training. Schmerzmedikamente können zeitlich beschränkt eingesetzt werden, meist sind sie allerdings wenig hilfreich. Bei spezifischen Befunden – z. B. Endometriose – muss natürlich die entsprechende medikamentöse Behandlung (z. B. Gestagen-Dauertherapie) eingesetzt werden, immer mit Hinweis auf eine evtl. nur begrenzte Wirkung.

Bei schwereren Verläufen – s.o. „yellow flags“ – kommt es noch mehr darauf an, den Teufelskreis zwischen Dauerschmerz – Anspannung – depressivem Rückzug – Drängen auf somatische (operative) Behandlung usw. zu unterbrechen. Wenn immer möglich, sollte die Behandlung multimodal in einem Team erfolgen. Unter Federführung eines psychosomatisch-versierten Arztes/ Ärztin geht es um eine Kombination aus Physiotherapie, Psychotherapie, Entspannungsverfahren, Sozial-Training u.a. Dafür braucht man natürlich ein Netzwerk mit einem entsprechenden Versorgungskonzept, in das die Akteure eingebunden sind und sich regelmäßig austauschen. Besonders schwierig kann die Motivation für eine Psychotherapie sein: Die Patientin „hat ja etwas“ – aber sie sieht sich nicht als „Fall für den Psychiater“!  Da kann gerade der somatische Arzt/ die Ärztin mit einer entsprechenden Zusatzqualifikation die Weichen stellen. Wirksamkeitsnachweise gibt es für die kognitive Verhaltenstherapie, während für die anderen Psychotherapieformen die Datenlage nicht ausreichend ist.

Es gibt Situationen, in denen die ambulante Behandlung an ihre Grenzen stößt und eine stationäre Behandlung angezeigt ist. Das gilt natürlich bei akuter Selbstgefährdung (Suizidalität), aber auch bei besonders schwerem chronischen Schmerz, bei schwerer psychischer Ko-Morbidität, gelegentlich auch bei fehlender Behandlungsmotivation bzw. Fixierung auf das somatische Erklärungsmuster  und bei ausbleibendem Erfolg der ambulanten Behandlung. Im stationären Kontext kann es leichter gelingen, ein abgestimmtes multimodales Konzept der Schmerzbehandlung akzeptabel und wirksam zu machen. Wenn die Klinik speziell darauf ausgerichtet ist, “können  zuvor als therapieresistent geltende chronische Schmerzen im Zeitrahmen eines stationären Rehabilitationsaufenthaltes effektiv behandelt werden“ [12], d.h. die Wahl der „richtigen“ Klinik ist entscheidend.

Fall 2 oder: Der psychosomatische Ansatz lohnt sich

Frau W. ist inzwischen fast 80 Jahre alt. Mit Mitte 50 erkrankte sie an Vaginalkrebs, der strahlentherapeutisch erfolgreich behandelt wurde. Ich lernte sie kennen im Rahmen der sehr langwierigen Wundheilung, sie war eine der ersten Patientinnen in meiner frauenärztlichen Praxis. Nach Abschluss der Behandlung kam sie alle 3–4 Wochen notfallmäßig mit diffusen Schmerzen, mal drückend, mal brennend, für die sich kein fassbares Korrelat fand, die mich aber regelmäßig verunsicherten und ratlos machten. Immer wieder tastete ich alles ab, machte immer wieder Ultraschall, entnahm Abstriche, überlegte was das sein könnte, und machte mir Sorgen. Die Patientin ging jedes Mal sichtlich zufrieden weg, obwohl ich ihr keine rechte Erklärung geben konnte, bis auf: „Ich finde nichts, was nicht stimmt“. Ihre Dauer-Replik war: „Dann ist es ja gut“. Ich fühlte mich hilflos und ohnmächtig, stöhnte wenn sie sich anmeldete, wollte sie eigentlich los werden.

Nach Vorstellung dieses Falls in der Balintgruppe klärte sich: Es war die Angst, die dahinter steckte, und gleichzeitig ihr Unvermögen, das jemand mitzuteilen, denn ihr Mann wehrte alle Gespräche ab, weil sie ja wieder gesund sei.

Die Lösung war ein festes Therapiekonzept, in Absprache mit dem behandelnden Internist: Sie kommt alle drei Monate zu einem vereinbarten Termin. Dann erfahre ich, wie zwischenzeitlich ihr Leben ausschaut, höre mir gewissenhaft alle Beschwerden an: „Dann ist da noch etwas“ (Druckgefühl, Durchfall, Ausfluss, Abgeschlagenheit), untersuche sie gründlich körperlich, bestätige dass soweit alles in Ordnung ist bzw. dass die chronischen Beschwerden als Folge der Bestrahlung zu werten sind. Frau S. kommt niedergeschlagen und klagend in die Praxis und geht relativ zufrieden hinaus. Ich fühle mich nicht mehr unter Druck gesetzt, die Beschwerden  „wegmachen“ zu müssen, sondern habe meine Aufgabe angenommen als „Zeugin“ und als „Abladestelle“. Das reicht! Frau S. hat in den letzten 24 Jahren nie mehr einen Not-Termin verlangt, der regelmäßige Kontakt alle drei Monate reicht ihr. Und ich freue mich, sie begleiten zu können bei ihrem aktiven Älter-Werden.

Diskussion

Viele Frauen, die sich immer wieder in der haus- und frauenärztlichen Praxis mit unklaren Unterleibsbeschwerden vorstellen, haben eine somatoforme Schmerzstörung. Die Situation ist belastend für die Betroffenen und die Ärzte/ Ärztinnen, weil sich trotz der oft erheblichen Beschwerden, verbunden mit Einschränkungen in der Lebensführung,  kein eindeutig fassbares Korrelat findet. Es besteht die Gefahr des „Entweder-Oder“: Entweder wird immer wieder nach organischen Befunden gesucht, z.T. mit eingreifenden operativen Maßnahmen, oder die Frauen fühlen sich abgeschoben auf die Psycho-Schiene: „Sie haben nichts, das sind die Nerven“. Es besteht die Gefahr der Chronifizierung bzw. der Falschversorgung.

Das ist auch gesundheitspolitisch bedenklich. In der Leitlinie zur somatoformen Schmerzstörung [4] besteht starker Konsens: „Die Dauer, bis eine funktionelle Störung erkannt und eine spezifische Behandlung eingeleitet wird, beträgt durchschnittlich 3–5 Jahre“. Und weiter: “Bei Patienten mit schweren Verläufen nicht-spezifischer, funktioneller und somatoformer Köperbeschwerden finden sich eine relativ niedrige störungsspezfische Behandlungsquote von ca. 40% und eine relativ hohe „Nicht-Versorgungsquote“ von ca. 60 %“. Das führt zu einer hohen „dysfunktionalen Inanspruchnahme des Gesundheitssystems“ [4].

Im Rahmen der psychosomatischen Grundversorgung, für die die meisten Haus- und Frauenärzte qualifiziert sind, besteht die Chance einer adäquaten Diagnostik und Behandlung. Grundlage dafür ist die Schaffung einer stabilen vertrauensvollen langfristigen Beziehung, damit sich die Patientinnen einlassen können auf die Mehrdimensionalität der Ursaschen ihrer Beschwerden und auch der Behandlung. Nur so lässt sich das „doctor-hopping“  eingrenzen. Wie schwierig das ist, weiß jede/r, der/die in der Praxis damit konfrontiert ist. Die Patientinnen haben spürbar hohe Ansprüche,  sie setzen unter Druck und sind selbst schnell enttäuscht. Das zu wissen, die Frau ernst zu nehmen und konsequent eine bio-psycho-soziale Haltung einzunehmen, kann der Beginn einer dann sehr lohnenden Beziehung sein. Das Wissen um „green“ bzw. yellow flags“ ist hilfreich, um die Schwere und die Therapieintensität einschätzen zu könne. Idealerweise gibt es zur Durchführung einer multimodalen Therapie ein lokales Netzwerk, in das man die Patientin  je nach Situation gezielt vermittelt. Die Kooperation entlastet die einzelnen Behandler/ Behandlerinnen und nützt den Patientinnen, aus „nervenden“ Patientinnen werden interessante Persönlichkeiten.

Zusammenfassung

Somatoforme Schmerzen, d.h., chronische Schmerzsyndrome ohne eindeutiges körperliches Korrelat, sind eine besondere Herausforderung in der ärztlichen Praxis. Sie treten bei Männern wie bei Frauen auf, aber Frauen berichten doppelt bis dreifach so häufig darüber,  d.h. es ist ein typisches „Frauen-Thema“. Wichtig ist eine konsequente bio-psycho-soziale Haltung von Anfang an, um der Multidimensionalität sowohl der Ursachen wie auch der möglichen Behandlung Rechnung zu tragen. Von besonderer Bedeutung und gleichzeitig schwierig ist der Aufbau einer tragfähigen verlässlichen Beziehung.
Im Beitrag soll beispielhaft auf die psychosomatischen Aspekte beim chronischen Unterbauchschmerz der Frau eingegangen werden, einem in der hausärztlichen wie in der gynäkologischen Praxis sehr häufigen Syndrom, für das in 60 bis 80 % die Diagnosekriterien der somatoformen Schmerzstörung zutrifft. Haus- und Frauenärzte/-ärztinnen mit psychosomatischer Grundversorgung haben die Chance, die Erkrankung frühzeitig zu erkennen und eine (iatrogene) Chronifizierung zu verhindern. Der Schwerpunkt liegt auf der adäquaten Kommunikation, der Einschätzung des Schweregrades und der darauf  basierenden abgestuften multimodalen Therapie.

Schlüsselwörter
Somatoforme Schmerzstörung, Chronischer Unterleibschmerz (CUS), Psychosomatik

Korrespondenzadresse

Dr. med. Claudia Schumann
Frauenärztin / Psychotherapie
Hindenburgstraße 26
37154 Northeim
T +49 5551 3483
E  ClaudiaSchumann@t-online.de
www.dr-claudia-schumann.de

Slide Gyne 02/2016 Psychosomatischer Umgang mit chronischen Unterleibsschmerzen

Literatur

  1. Egle UT, Nickel R. Kindheitsbelastungsfaktoren bei Patienten mit somatoformen Störungen. Z Psychosom Med Psychoanal 1998; 44: 21–36
  2. Latthe P et al., WHO systematic review of prevalence of chronic pelvic pain: a neglected reproductive health morbidity: systematic review. BMJ 2006b; 332,749–755
  3. Siedentopf F, Chronischer Unterbauchschmerz. In: Weidner K, Rauchfuß M, Neises M (Hrsg.). Leitfaden psychosomatische Frauenheilkunde, Köln, Deutscher Ärzte-Verlag 2012
  4. Hausteiner-Wiehle C, Schäfert R, Häuser W, Herrmann M, Ronel J, Sattel H, Henningsen P (Steuerungsgruppe): S3-Leitlinie zum Umgang mit Patienten mit nicht-spezifischen, funktionellen und somatoformen Körperbeschwerden, AWMF-Reg.-Nr. 051/ 0001,  Kurzfassung.  Stuttgart  Schattauer Verlag  2012
  5. Schaefert R, Hausteiner-Wiehle C et alt. Klinische Leitlinie: Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden. Dtsch Ärztebl 2012; 47: 803–813
  6. Siedentopf F, Kölm P, Kentenich H. Chronischer Unterbauchschmerz der Frau, Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe  Berlin 2011, Verlag S.Kramarz
  7. Siedentopf  F. Chronische Schmerzsyndrome in der gynäkologischen Praxis: Endometriose und Fibromyalgiesyndrom. Geburtsh Frauenheilk 2012;72: 1092–1098
  8. Mark H et al. Gynecological symptoms associated with physical and sexual violence.
    J Psychosom Obstet Gynaecol 2008; 29: 164–172
  9. Meltzer-Brody S et al. Trauma and posttraumatic stress disorder in women with chronic pelvic pain. Obstet Gynecol 2007; 1: 7–32
  10. Rapaehl Kg, Widom CS, Lange G. Childhood victimization and pain in adulthood: a prospective investigation. Pain 2001; 92: 283–293
  11. Hennigsen P, Zipfel S, Herzog W. Management of functional somatic syndroms. Lancet 2007; 269: 946–55
  12. Meiser E.M. Rehabilitation somatoformer Schmerzen bei komorbider Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS).  Ärztliche Psychotherapie 2009; 4: 164–166
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