Überspringen zu Hauptinhalt

DGPFG-Rundbrief
2/2016 Nr. 52

Dezember 2016

Liebe Mitglieder der DGPFG,

haben Sie nicht auch das Gefühl, dass auf unserer Seele herumgeTRUMPelt wird?

Dass ein Populist einen faktenlosen Wahlkampf gewinnt, sollte uns mehr als nachdenklich stimmen. Die von der Globalisierung vorgegaukelte, aber selten mögliche „Verfügbarkeit“ eines sorgenfreien Lebens erzeugt Gier, Kränkung und am Ende ein Gefühl von Bedeutungslosigkeit. Dies ist der Nährboden für fast alle Zeitphänomene wie auch den Erfolg des Populismus.

Was können wir Psychosomatiker tun?

Der bekannte Freiburger Ethiker Giovanni Maio schreibt in seinem Buch, Medizin ohne Maß: „Das Glück liegt nicht in unserer Hand, sondern in unserer Einstellung.“ …und damit können wir insbesondere mit unseren Patientinnen immer wieder arbeiten. Die biopsychosozial begleitete Elternschaft ist kein Garant aber Voraussetzung für eine Entwicklung zum selbstbewussten, kohärenten Menschen, der weniger Anfälligkeit zeigt für Extremismus, welcher Art auch immer.

Aber auch die ganz allgemeine psychosomatische Begleitung von Frauen in Ihren Lebensübergängen von der Menarche bis zur Menopause und in ihren Krisenzeiten, sei es aus biologischen, psychischen oder sozialen Gründen, hat aus meiner Sicht protektive Effekte.

Indem wir eine ehrliche und ganzheitliche Medizin anbieten, welche sich nicht dem Diktat von Ökonomie und Organisation unterordnet, leisten wir viel für den „Seelenfrieden“ – auch den unseren.

In diesem Sinne hoffe ich, dass Sie nach Lektüre unseres Rundbriefes auch zu dem Schluss kommen, dass wir in der DGPFG und im Verbund mit den kooperierenden Verbänden gute Arbeit leisten. Vorstand und Beirat sind fleißig und haben viel geschafft. Wir sind auf gutem Weg – sind zunehmend bedeutsam, versuchen klug und evident zu entscheiden und öffnen unsere Grenzen, und damit stehen wir auch politisch auf der aus meiner Sicht richtigen Seite. Ich hoffe, viele von Ihnen sehen das auch so.

In diesem Sinne grüßt Sie herzlich und in freudiger Erwartung auf ein Wiedersehen in Dresden

Dr. Wolf Lütje
Präsident der DGPFG

Oops...
Slider with alias rundbrief not found.

Inhaltsverzeichnis

Seite 3
Einladung zur Mitgliederversammlung


Seite 4
Klausurtagung im September 2016


Seite 5
Gewalt gegen Frauen


Seite 6
Die neue Homepage


Seite 7
DGPFG-Kongress 2017


Seite 8
Nationales Zentrum Frühe Hilfen


Seite 9
Kooperationen – Informationen und Stand der Dinge


Seite 10
Das Beratungsnetzwerk Kinderwunsch Deutschland BKiD


Seite 10
Perspektiven der psychosozialen Kinderwunschberatung in Deutschland – Tagung in Hamburg


Seite 11
Initiative Klug entscheiden


Seite 12
Kongressberichte


Seite 12
61. Kongress der DGGG 2016


Seite 13
DGPFG-Sitzung zu Migrationsthemen auf der DGGG-Tagung 2016


Seite 14
23. Jahrestagung des AKF


Seite 15
Fachtag „Gelingende Geburtshilfe“


Seite 16
Studie: Deutschland hat weniger Sex


Seite 17
Buchtipps


Seite 17
Vertrauen in die natürliche Geburt


Seite 17
Schönheitsmedizin


Seite 18
Impressum

Gyne 06/2018 – Pränataldiagnostik heute: Herausforderung und Grenzen der psychosomatischen Betreuung

Gyne 06/2018

Pränataldiagnostik heute:
Herausforderung und Grenzen der
psychosomatischen Betreuung

Autorin: Dr. Claudia Schumann

 

Immer ausgefeiltere Methoden erlauben immer detailliertere Aussagen über das Ungeborene – zu seinem Wohlergehen, aber auch zu Fehlbildungen und Chromosomenabweichungen. Das birgt Chancen, aber auch Risiken und stellt Eltern wie Betreuende vor besondere Herausforderungen. Es geht um medizinische Informationen, aber vor allem um den Umgang damit: Denn das Wissen hat unterschiedliche Konsequenzen! Damit komplizieren sich die Aufgaben für die psychosomatische Schwangerschaftsbetreuung in der Praxis.

Was ist eigentlich Pränataldiagnostik?

Seit es Schwangerschaft gibt, gibt es auch Pränataldiagnostik: Das Betrachten und Abtasten des wachsenden Bauchs, das Spüren der kindlichen Bewegungen, Fragen an die Mutter nach ihrem Befinden – das alles sind uralte vorgeburtliche (pränatale) Untersuchungen (Diagnostik) mit dem Ziel, mehr über das Ungeborene zu wissen. Wächst es gut? Wann wird es kommen? Wie liegt es? Geht alles gut oder stimmt etwas nicht? Die Fragen haben sich nicht geändert. Aber die Methoden. Lange konnte man nur von außen beobachten, wie eine Frau „guter Hoffnung“ war. Man bekam keine Informationen direkt über das Ungeborene, das im Mutterleib heranwuchs.

Das änderte sich erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts. 1819, vor knapp 200 Jahren, wurden zum ersten Mal die kindlichen Herztöne mit einem Stethoskop gehört. 1895 wurde schließlich von Pinard das heute gebräuchliche Hörrohr entwickelt. So ahnte man, wie es dem Kind geht. Aus der Aufzeichnung der Herztöne gleichzeitig mit den Kontraktionen (CTG) gewann man bessere Rückschlüsse auf sein Befinden. Seit etwa 1960 kann man mit Ultraschall in den Bauch „hineinsehen“ und die kindliche Entwicklung beobachten, seit ca. 1970 kann man die kindlichen Chromosomen in fetalen Zellen untersuchen, die man vorher mithilfe einer Amniozentese aus dem Fruchtwasser gewonnenen hat. In den 1980er-Jahren wurde der Triple-Test entwickelt, zur sog. Risiko- Abschätzung, der inzwischen nahezu abgelöst ist durch das Erst-Trimester- Screening (ETS). Eine entscheidende Wende bedeutet die 2012 eingeführte NIPD (nicht-invasive Pränataldiagnostik), eine ungefährliche und sichere Methode zur Beurteilung der fetalen Chromosomen.

Unter Pränataldiagnostik (PND) versteht man heute die in den letzten knapp 60 Jahren entwickelten modernen Methoden. Sie ermöglichen mehr Wissen und bedeuten mehr Chancen für die Gesundheit des Ungeborenen, aber sie sind gleichzeitig mit Belastungen und Risiken verbunden. Durch sie verändert sich die Zeit des hoffnungsvollen „Abwarten was- kommt“ in eine Zeit der kritischen Beobachtung und der Entscheidungen. Die Gesundheit des Kindes erscheint immer mehr machbar. Werdende Mütter/Eltern stehen vor neuen Möglichkeiten und Herausforderungen. Gleichzeitig stellen diese Methoden neue Anforderungen an die Kompetenz der begleitenden Fachleute (Ärztinnen/ Ärzte und Hebammen), an ihr Wissen und ihr kommunikatives Können. Und nicht zuletzt haben sie den gesellschaftlichen Umgang mit Schwangerschaft verändert.

Vorgeburtlicher Ultraschall: Untersuchung mit Januskopf

Mit Ultraschall (US) kann man Zahl und Größe des/der Feten beurteilen, Anlage und Entwicklung der Organe, die Lage im Mutterleib und den Sitz der Plazenta. Mit der Doppler- Untersuchung wird die Versorgung des Feten beurteilt, etwaige Risiken für seine Entwicklung lassen sich frühzeitig erkennen.

Gemäß geltenden Mutterschafts- Richtlinien wird Ultraschall als vorgeburtliches Screening allen Schwangeren angeboten; die Untersuchungen werden – wenn die Schwangere dem Angebot zustimmt – dreimal in der Schwangerschaft durchgeführt und als Kassenleistung abgerechnet. Ultraschall gilt als ungefährlich. Viele werdende Eltern genießen es als Baby- Fernsehen, sie wollen eher mehr als die drei vorgesehen Untersuchungen und sind auch bereit, sie als IGeL zu zahlen.

Mit Ultraschall kann ein ungestörtes Wachstum konstatiert werden, ebenso können Gemini und deren Versorgung früh erkannt werden, ein Herzfehler und eine Placenta praevia: alles wichtige Informationen für die weitere Betreuung und die Entbindung. Bestimmte Untersuchungsergebnisse, z. B. eine auffällige Kopfform oder mangelndes Wachstum, können aber auch erste Hinweise sein auf eine Chromosomenaberration und/oder eine schwerwiegende Beeinträchtigung. So zeigt sich beim Ultraschall der Januskopf, die Doppeldeutigkeit der PND besonders deutlich: Die Untersuchung kann besorgte werdende Eltern beruhigen und sie kann zum Wohl des Kindes sein, etwa wenn es wegen des bekannten Herzfehlers in einer Spezialklinik zur Welt kommt und sofort neonatologisch versorgt werden muss. Aber Ultraschall birgt auch Gefahren: Auffällige Befunde können beunruhigen, weitere Untersuchungen nach sich ziehen, bis hin zur Fragestellung des Abbruchs bei der Feststellung einer schwerwiegenden Behinderung, der sich die Eltern nicht gewachsen fühlen.

Erst-Trimester-Screening (ETS): Suchtest mit fraglich-sicherer Aussage

Hinter der Idee des Erst-Trimester- Screening (ETS) steckt die Idee, in der frühen Schwangerschaft eine ungefährliche Methode anzubieten, um individuell – und nicht nur aufgrund der statistischen Alterswahrscheinlichkeit – das Risiko für das Auftreten einer Trisomie zu bestimmen. Aus den erhobenen einzelnen Daten (gemessene Nackenfalte, Blutwerte (PAPP-A, beta-HCG) wird unter Berücksichtigung des Alters der Mutter mithilfe eines Algorithmus errechnet, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für eine Trisomie (21/16/18) ist. Bei hohem Verdacht (Risiko > 1:300) wird der Schwangeren eine Amniozentese zur definitiven Klärung angeboten. Das ETS hat inzwischen den früher üblichen Triple-Test abgelöst, da die Aussagen genauer beziehungsweise die Entdeckungsraten höher sind.

Da es sich beim ETS um eine Untersuchung der genetischem Ausstattung des Feten handelt, fällt es unter das Gen-Diagnostik-Gesetz: Ärztinnen und Ärzte, die die Untersuchung durchführen, müssen eine Qualifikation zur genetischen Beratung nachweisen und die Schwangere ausführlich über die Untersuchung (Aussagekraft, mögliche Ergebnisse, mögliche Auswirkungen einer Aberration) informieren. ETS ist keine Kassenleistung, die Kosten liegen bei ca. 150 bis 300 Euro. Je nach Ergebnis ist die Schwangere durch das ETS beruhigt oder beunruhigt. Manche realisieren erst bei einem auffälligen Befund, worauf sie sich eingelassen haben und dass ihnen weitere Entscheidungen und eventuell gefährliche Untersuchungen bevorstehen

Amniozentese (AC), Chorionzotten- Biopsie (CVS): klare Aussage, gefährlicher Eingriff

Um das fetale Erbgut zu bestimmen, benötigte man bis vor wenigen Jahren fetale Zellen. Sie werden gewonnen mithilfe einer Amniozentese (AC) oder eine Chorionzotten-Biopsie (CVS), beides auch als „invasive PND“ bezeichnet. Die AC kann ab der 14./15. Schwangerschaftswoche gemacht werden, die CVS schon ab der 11./12. Schwangerschaftswoche. Nach entsprechender Aufbereitung/ Zellkultur können die kindlichen Chromosomen untersucht und sicher beurteilt werden. Bei der AC liegen zwischen Untersuchung und endgültigem Ergebnis 10 bis 14 Tage Wartezeit; ein vorläufiges Ergebnis innerhalb von 1 bis 2 Tagen bietet der sogenannte FISHTest (Aussagesicherheit 95 %). Nach CVS erhält man das Ergebnis innerhalb weniger Tage.

Beide Untersuchungen sind nicht ungefährlich. Das Abortrisiko liegt bei der AC zwischen 0,3 und 1 %, bei der CVS sogar bei bis zu 2 %, abhängig vor allem von der Erfahrung der Untersuchenden. Bei auffälligem Vorbefund (ETS, Ultraschall) oder bei höherem Alter der Mutter (> 35 Jahre) sind die Untersuchungen eine Kassenleistung. Ärztinnen und Ärzte müssen Frauen über 35 Jahre auf die Möglichkeit einer AC hinweisen. Eine genetische Beratung (wie beim ETS) ist auch vor AC/CVS verpflichtend.

Frauen, denen aufgrund ihres Alters oder einer auffälligen Voruntersuchung eine der Untersuchungen vorgeschlagen wird, stehen vor einer schwierigen Situation: Nur durch die Untersuchung bekommen sie Gewissheit – andererseits riskieren sie das Leben ihres vielleicht völlig gesunden Ungeborenen. Und die Gewissheit kann auch bedeuten, dass das Kind tatsächlich eine Chromosomen- Aberration hat und sie dann erneut vor einer noch größeren Entscheidung stehen: Abbruch oder Austragen der Schwangerschaft?

Nach einem auffälligen Befund haben Betroffene laut Gen-Diagnostik- Gesetz Anspruch auf eine ausgiebige ärztliche und psychosoziale Beratung; vor einem etwaigen Abbruch (aus medizinischer Indikation) muss eine Wartezeit von drei Tagen ein bzw. ausgehalten werden. Aus Studien ist bekannt, dass sich weit über 90 % der Frauen bei der Diagnose Trisomie für einen Abbruch entscheiden. Diese Entscheidung wird fast immer gegenüber der Umwelt verheimlicht, das tote Kind wird als „Fehlgeburt“ ausgewiesen und betrauert.

Nichtinvasive Pränataldiagnostik (NIPD): früh und sicher und ungefährlich – ein Fortschritt?

Die „Nichtinvasive Pränataldiagnostik“ (NIPD) ist eine grundlegende und entscheidende Änderung der PND: Sie ermöglicht frühe, ungefährliche und sichere Aussagen zum Erbgut des Kindes.

NIPD beruht auf der Möglichkeit, aus dem mütterlichen Blut die fetalen Chromosomen zu beurteilen. Daher die Bezeichnung „nichtinvasiv“, als Abgrenzung zu den oben dargestellten invasiven Methoden AC/CVS. Nach der Blutentnahme (möglich ab der 10. Schwangerschaftswoche) werden im Labor die im mütterlichen Blut schwimmenden zellfreien fetalen DNA-Fragmente isoliert, mit aufwändigen Methoden (next generation sequencing, Z-score-Berechnung) beurteilt und die chromosomale Ausstattung des Feten bestimmt. Auf das Testergebnis muss man drei bis fünf Tage warten; die beratende Ärztin/der beratende Arzt muss über eine genetische Kompetenz verfügen.

Bislang können festgestellt werden: fetales Geschlecht, Trisomie, geschlechtschromosomale Störungen (45 XO = Turner-Syndrom, 47 XXY = Klinefelter-Syndrom u. a.). Die Detektionsrate ist sehr hoch (für Trisomie 21 über 99%), die Falsch-Positiv- Rate sehr niedrig (0,1 %). Die Rate der Betroffenen (d.h. der Frauen, die ein positives Ergebnis für Trisomie 21 erhalten) hängt allerdings von der Prävalenz ab, also von der Vorab-Wahrscheinlichkeit für eine Trisomie. Beratende müssen sich gut auskennen, um die Komplexität der unterschiedlichen Aussagekraft klar vermitteln zu können.

Die NIPD wurde 2014 in Deutschland eingeführt. Die Kosten fielen von anfangs etwa 1250 Euro auf jetzt 200 bis 450 Euro, je nach Labor und Umfang der gewünschten Untersuchung. Noch ist nicht entschieden, ob die NIPD als Kassenleistung eingeführt werden soll; entsprechende Anträge werden im G-BA beraten.

Von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) wird die NIPD empfohlen bei auffälligem ETS oder höherem mütterlichem Alter, also als Alternative zu den invasiven Methoden – nicht als Standard-Untersuchung für alle. Als Vorteil wird betont: Ohne Abort-Risiko kann so in den meisten Fällen der Verdacht auf eine Chromosomen-Veränderung ausgeschlossen werden. Bei positivem Befund der NIPD wird zur hundertprozentigen Sicherung noch eine AC empfohlen.

Natürlich müssen Schwangere sich nicht an diese Empfehlung halten: Jede Frau kann für sich entscheiden, ob sie eine NIPD machen lassen will, unabhängig von der Wahrscheinlichkeit für eine Chromosomenveränderung. Und sie kann auch entscheiden, ob sie bei auffälligem Befund eine AC machen lassen will, das heißt: wenn das Ergebnis noch vor Ende der 12.SSW p.m. vorliegt, kann sie innerhalb der gesetzlichen Frist einen Abbruch vornehmen lassen. Auch hier wieder der Januskopf: Die NIPD kann gerade älteren Schwangeren Sicherheit geben, ohne Risiko für das Ungeborene, sie kann die Zahl der Amniozentesen und damit der ärztlich induzierten Fehlgeburten reduzieren – aber sie kann auch zu einer breitflächigen Anwendung von PND bis hin zu einem selbstverständlichen Screening auf chromosomale Gesundheit führen.

Ist die NIPD eine positive Weiterentwicklung, ein Fortschritt? Oder ein weiterer Schritt in Richtung Selektion, wie kritische Stimmen befürchten? Oft wird an diesem Punkt die gute Beratung angeführt als Chance und Voraussetzung für eine eigenständige Entscheidung der Schwangeren im Umgang mit PND.

Beratung zu PND und Shared decision making (SDM): ein Dilemma

Die Beratung zu der prinzipiellen Möglichkeit von PND ist laut Richtlinie verpflichtend für die ärztliche Betreuung in der Schwangerschaft. „Was wollen Sie von Ihrem Kind wissen?“ Das ist die entscheidende Frage, die der Frau früh gestellt werden und die sie für sich beantworten sollte. Auch auf die möglichen Konsequenzen sollten sie bzw. das Paar sich im Klaren sein: „Können Sie sich vorstellen, bei einer schweren Auffälligkeit in eine Situation zu kommen, bei der es um die Entscheidung für das Austragen oder den Abbruch der Schwangerschaft geht?“

Die Weichen werden früh gestellt. Frauen/Paare, die ein Kind ohne Wenn und Aber annehmen wollen und für die ein Abbruch in keinem Fall eine Option ist, brauchen weder NIPD noch ETS; es kann sein, dass sie sich für einen Organ-Ultraschall entscheiden in der 20. bis 22. Schwangerschaftswoche, um bei etwaigen Auffälligkeiten (Herzfehler, Spina bifida) gut vorbereitet zu sein. Diese Frauen zu beraten, ist aus meiner Sicht als Frauenärztin eher einfach. Allerdings sind nur die wenigsten werdenden Eltern über die möglichen Konsequenzen von PND informiert. Die meisten wollen einfach nur wissen, „dass alles in Ordnung ist“, und gehen davon aus: „Heute kann man doch eigentlich alles sehen.“ Dabei blenden sie mögliche belastende Konsequenzen der Untersuchungen aus; es ist nicht einfach, das in die Beratung einzubringen.

Zur Beratung über Pränataldiagnostik gehört zunächst die Information über die möglichen Untersuchungsmethoden, deren jeweilige Aussagekraft und die mit der Untersuchung verbundenen Gefährdungen. Es gilt, Begriffe wie „Risiko“ und „Wahrscheinlichkeit“ zu erörtern, ebenso wie „Fehlbildung“ und „Chromosomenabweichung“, und die jeweils resultierenden möglichen Folgen auf die kindliche Entwicklung. Angesprochen werden muss auch die eventuelle Durchführung eines späten Abbruchs der Schwangerschaft, also eine eingeleitete schmerzhafte lange Geburt. Ein Gespräch über Pränataldiagnostik verlangt viel an Wissen und vor allem an Empathie, es ist zeitaufwändig und kann für alle Beteiligten emotional belastend sein. Die Beratung muss sich nach dem Auffassungs- und Verständnisvermögen der Schwangeren richten, sie soll sie nicht erschrecken, und sie muss früh (in der 8./9. Schwangerschaftswoche) erfolgen, also in einer sowieso schon körperlich wie seelisch anstrengenden Phase der Schwangerschaft, die oft von Ambivalenz und Fragen geprägt ist. Denn nur eine frühe Beratung gewährt der Frau/dem Paar ausreichend Möglichkeit nachzudenken, sich eventuell zusätzlich zur ärztlichen noch eine psychosoziale Beratung zum Thema ETS oder NIPD einzuholen bzw. die Hebamme um Rat zu fragen. Beides kommt leider weiterhin sehr selten vor, wie beide Berufsgruppen berichten.

Ist es möglich, die Schwangeren/ werdenden Eltern in der ärztlichen Praxis so zu beraten, dass es wirklich zu einem „informed consent“ kommt, zu einer gemeinsamen belastbaren Entscheidung („shared decision making“)? Nach 30-jähriger frauenärztlicher Tätigkeit mit psychosomatischem Schwerpunkt bezweifle ich das. Die Informationsmenge ist so groß, die ethische Dimension so überwältigend, der (Zeit-)Druck kaum aushaltbar. Dazu kommt: Der oft gehörte Wunsch „Hauptsache es ist gesund!“ ist nachvollziehbar, und er erscheint machbar. Sehr oft habe ich in der Praxis im Lauf von Beratungsgesprächen eine große Verunsicherung erlebt, die sich ausdrückt in Fragen wie: „Was machen denn die meisten?“ Oder: „Was würden Sie uns raten?“ Alles zusammen mag dazu beitragen, dass viele Beratungsgespräche nicht so aufwendig verlaufen, wie eigentlich erforderlich. Was als Angebot der Selbstbestimmung gedacht ist, wird oft als Zumutung erlebt; für viele ist es eine Überforderung.

Was tun mit dem Dilemma?

Umgang mit den Herausforderungen durch Pränataldiagnostik: Mehr Information, mehr Diskussion, mehr Kooperation – Inklusion von Anfang an

Schon immer kam es vor, dass sich eine Schwangere grundsätzlich gegen ein Kind und damit für einen Abbruch entschied. In Deutschland sind das pro Jahr fast 100.000 Frauen. Neu ist seit ca. 50 Jahren, dass Frauen bzw. werdende Eltern sich aufgrund von speziellen Eigenschaften des Ungeborenen gegen ihr Kind entscheiden bzw. entscheiden können. Die Informationen erhalten sie durch die moderne Pränataldiagnostik. Diese Methoden werden immer raffinierter; die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen, die technischen Möglichkeiten werden sich weiter entwickeln. In Zukunft werden die Eltern in spe mit noch mehr möglichem Wissen konfrontiert werden.

Ein Kind großzuziehen, ist eine Herausforderung, das gilt noch mehr für ein „besonderes Kind“. Das kann überfordern, ebenso wie die Entscheidung für PND oder für bzw. gegen das Austragen eines Kindes mit bekannter Behinderung. Es steht niemandem zu, eine Frau zu verurteilen, die sich zu dem schweren Entschluss eines Abbruchs aufgrund einer befürchteten Behinderung durchringt. Nicht umsonst wird diese Entscheidung fast immer als Geheimnis behandelt, obwohl der Weg dahin, die immer präzisere Pränataldiagnostik, der Frau intensiv angeboten und als Fortschritt gefeiert wird. Die Schizophrenie der Situation, die Gefühle von Scham und Schuld, müssen die meisten Betroffenen alleine aushalten; die entsprechenden Beratungsangebote sind rar.

Eine realistische Lösung des Dilemmas sehe ich nicht; noch breitere Beratungsangebote für Schwangere sind sicher wichtig, aber kein Ausweg, ebenso wenig wie größere Hürden zum Zugang zur PND. Aus meiner Sicht geht es darum, mehr über mögliche Strategien des Umgangs mit dem neu-verfügbaren Wissen über Ungeborene nachzudenken. Dazu einige Vorschläge:

  1. Frühzeitige Information über PND, z. B. in Schulen, und damit verbunden eine ethische Diskussion über den Umgang mit dem werdenden Leben, über Begriffe wie „Gesundheit“ und „Leid“, „lebenswert“ und „Vielfalt“. Damit Menschen mit diesem Thema nicht erst in der Schwangerschaft konfrontiert werden, sondern sich schon vorher Gedanken machen und einen Standpunkt entwickeln können.
  2. Mehr öffentliche Diskussion (in Politik wie in Medien) zum Umgang mit Leben an seinem Anfang – genauso wie die gewohnte breite Diskussion über den Umgang mit Leben an seinem Ende. Wie gehen wir als Gesellschaft damit um, was sind unsere Wie sehr diese Diskussion die Gemüter beschäftigt, zeigt die gegenwärtige Diskussion um das sogenannte „Werbeverbot“ für Schwangerschaftsabbrüche (gemäß § 219a).
  3. Neben der ständigen Fortbildung über die Möglichkeiten und Grenzen von PND ist eine engere Kooperation aller Berufsgruppen erforderlich bei der Begleitung werdender Eltern. Nicht nur ÄrztInnen und Ärzte, auch Hebammen müssen in diesem Bereich auf dem Laufenden sein, auch wenn sie selbst keine Pränataldiagnostik anbieten können. Sie werden vielleicht gerade bei der ersten Weichenstellung für oder gegen PND eher angesprochen, als psychosoziale Beraterinnen, eben weil sie als Expertinnen für Schwangerschaft gelten. Die leider oft zu hörenden gegenseitigen Vorurteile – „Ärztinnen und Ärzte machen einfach so Ultraschall und PND und klären vorher nicht auf!“, „Hebammen haben wenig Ahnung von PND und sind immer dagegen!“ – sind eine Katastrophe für die Ratsuchenden und erschweren ihnen die Entscheidung.
  4. Last but not least: Was ist normal? Gesellschaftliches Umdenken tut not. Wenn Frauen gratuliert wird zu ihrer Entscheidung, ein „besonderes Kind“ zu bekommen, wenn sie zur Geburt einen besonders dicken Blumenstrauß erhalten, wenn Paare wissen, dass sie alle denkbare finanzielle und psychosoziale Unterstützung bekommen, und wenn sie darüber hinaus mit ihrem Kind von ihrer Umwelt wirklich akzeptiert werden, statt zu hören „So etwas muss es doch nicht mehr geben!“ – dann wird es ihnen leichter fallen, eine gute Entscheidung zu fällen, die sie aus aushalten können, in der einen oder anderen Richtung. Sie können „guter Hoffnung“ sein auch mit Pränataldiagnostik, denn sie können auf Verständnis und Akzeptanz rechnen.

Inklusion ist offiziell das Motto der Zeit. Sie sollte früh beginnen, möglichst schon im Mutterleib.

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Claudia Schumann
Frauenärztin / Psychotherapie
Vizepräsidentin der DGPFG
Hindenburgstr. 26
37154 Northeim
www.dr-claudia-schumann.de

Slide Pränataldiagnostik heute: Herausforderung und Grenzen der psychosomatischen Betreuung Gyne 06/2018

Artikel des Monats Oktober 2018

Artikel des Monats Oktober 2018

vorgestellt von Prof. Dr. med. Matthias David

Linden, Michael et al.

Definition und Entscheidungsschritte in der Bestimmung und Erfassung von Nebenwirkungen von Psychotherapie.

Psychother Psych Med 2018; 68: 377-382

„…Neue chirurgische Verfahren wurden mit dem ausschließlichen Ziel entwickelt, diese Nebenwirkung (Entfernung der Brust) bestmöglich zu vermeiden. In gleicher Weise ist es derzeit intendiert, dass bei einer Expositionsbehandlung der Patient Angst und damit auch Stress und eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens erlebt… Dennoch wäre es wünschenswert, dass die Forschung therapeutische Alternativen entwickelt, die ermöglichen, das gleiche Therapieziel zu erreichen, ohne den Patienten zu belasten…“. Die Autorengruppe um Linden hat sich eines sehr wichtigen und interessanten Themas angenommen, über das in der Vergangenheit, aber auch aktuell wenig publiziert wurde. Linden et al. (2018) schreiben (selbst-)kritisch, dass es seit über 150 Jahren eine wissenschaftlich fundierte Psychotherapie gibt, aber bisher keine „nebenwirkungsorientierte Forschungstradition und Behandlungskultur“. Derzeit liegen nur wenige, zumeist methodisch schwache Arbeiten vor, in denen, je nach Erhebungsmethode, Population und Therapieart, über Nebenwirkungsraten von 3 bis 100 %, bezogen auf alle Psychotherapie-Fälle, berichtet wird. Linden hat 2013 und 2014 eine Definition für Nebenwirkungen von Psychotherapie formuliert – Nebenwirkungen sind demnach „unerwünschte Ereignisse bezüglich der unmittelbaren Krankheitssymptomatik, des Therapieprozesses, des weiteren Lebensumfelds sowie der Krankheitsverarbeitung der Patientin…, die durch eine korrekt durchgeführte Behandlung verursacht wurden…“.

Erfassung und Einordnung von Psychotherapie-Nebenwirkungen sind komplex und umfassen mehrere Schritte, die die Autoren in dem Artikel ausführlich darstellen und erläutern. Für das Auffinden von Nebenwirkungen von Psychotherapie kann u.a. die UE-ATR-Checkliste (Unwanted Event-Adverse Treatment Reaction) herangezogen werden. Diese gibt einige Bereiche vor, die besonders bedacht werden sollten: 1. Unmittelbare Beschwerden und Krankheitssymptome (Verschlechterung, keine Verbesserung, Neuauftreten); 2. Therapieprozess (Störungen der Interaktion, Konflikten zwischen Therapeut und Patientin oder zwischen Patientinnen in der Gruppentherapien, Therapie- oder Therapeutenabhängigkeit); 3. Soziales Umfeld der Patientin (Konflikte am Arbeitsplatz, in der Familie); 4. Krankheitsbewältigung und –verständnis.

Die Autoren gehen ausführlich darauf ein, welche Nebenwirkungen als therapiebedingt einzustufen, wie diese zu erkennen sind und wie mit ihnen umgegangen werden sollte. Es wird darauf hingewiesen, dass Psychotherapie, wenn man die Daten aus vorliegenden Studien berücksichtigt, überraschenderweise zu den vergleichsweise belastenden, ja „riskanten“ Behandlungsmethoden zählt. Konsequent fragen sich Linden et al. weiter, wie viele und welche Art von Nebenwirkungen bei einer Psychotherapiemethode akzeptabel sind resp. eher dazu führen sollten, von ihr abzuraten.

Der unbedingt lesenswerte Artikel schließt mit einem Fazit: „…Gute Therapeuten kennen und sehen ihre eigenen Nebenwirkungen und sind in der Lage, eine nebenwirkungsorientierte Behandlung durchzuführen. Sieht ein Therapeut keine Nebenwirkungen, dann kann man davon ausgehen, dass er sie übersieht…“!

(M. David)

Prof. Dr. med. Matthias David

Artikel des Monats September 2018

Artikel des Monats September 2018

vorgestellt von PD Dr. med. Friederike Siedentopf

Holly R. Harris, Friedrich Wieser, Allison F. Vitonis,Janet Rich-Edwards, Renée Boynton-Jarrett, Elizabeth R. Bertone-Johnson, Stacey A. Missmer.

Early life abuse and risk of endometriosis

Human Reproduction, Vol.33, No.9 pp. 1657–1668, 2018

In dem Artikel wird der mögliche Zusammenhang zwischen physischem und sexuellem Missbrauch in der Kindheit und dem Risiko der Erkrankung an Endometriose untersucht. Grundlage ist die Tatsache, dass es Studienergebnisse gibt, die eine mögliche Assoziation von chronischem Unterbauchschmerz und physischem und sexuellen Missbrauch berichten. Bislang hat jedoch nur eine Studie sich mit dem Endometrioserisiko in diesem Patientinnenkollektiv befasst, dort fand sich keine Assoziation mit einer Missbrauchsanamnese (Schliep et al. 2016).

Methodisch handelt es sich um eine  prospektive Kohortenstudie, die Daten von 60 595 prämenopausalen Frauen zwischen 1989 und 2013 als Teil der Nurses’ Health Study II analysiert hat.

Die Teilnehmerinnen komplettierten den Violence victimization questionnaire in 2001. Ein Studieneinschluss erfolgte nur bei laparoskopisch bestätigter Endometriose. Es erfolgte dann die statistische Evaluation der Daten. In der Studienpopulation fanden sich 3394 Fälle von laparoskopisch bestätigter Endometriose im Rahmen des 24-jährigem Follow-up. Verglichen mit denjenigen Frauen, die keine Vorgeschichte von sexuellem oder physischem Missbrauch hatten, war das Risiko an Endometriose zu erkranken höher, bei schwerem körperlichen Missbrauch RR = 1.20; 95% CI = 1.06, 1.37 und bei schwerem sexuellem Missbrauch RR = 1.49; 95% CI = 1.24, 1.79. Es bestand ein um 79% erhöhtes Risiko für Frauen die schweren, chronischen Missbrauch verschiedenster Art berichteten (95% CI = 1.44, 2.22). Die Assoziationen zwischen Missbrauch und Endometriose waren ausgeprägter bei Frauen mit Infertilität, in dieser Gruppe war es auch wahrscheinlicher, dass die betroffenen Frauen unter einer zusätzlichen Schmerzsymptomatik litten

Tatsächlich fand sich in dieser prospektiven Kohortenstudie ein erhöhtes Endometrioserisiko bei Frauen mit sexuellem und physischen Missbrauch in der Kindheit. Je chronischer und schwerer der berichtete Missbrauch war  und wenn eine Akkumulation von verschiedenen Arten des Missbrauchs bestand, umso größer war das Endometrioserisiko. Als Limitationen sowie als Gründe für die vorsichtige Interpretation der Daten geben die Autoren einerseits einen Selbstauskunftsbias an, der natürlich eine falsche Klassifikation der Patientinnen zur Folge haben könnte sowie eine Schwierigkeit, die Patientinnen zu erreichen, die vor 2001 diagnostiziert wurden.

Aus meiner Sicht handelt es sich um eine interessante Arbeit, die versucht, sich an die schwierige Thematik von  psychischen Kofaktoren und den Entstehungsmechanismen für organische Erkrankungen anzunähern, im konkreten Fall geht es darum, die  Beziehung zwischen den biologischen Auswirkungen von Missbrauch und den Entstehungsmechanismen der Endometriose  besser zu verstehen.

Friederike Siedentopf, September 2018

PD. Dr. med. Friederike Siedentopf

Artikel eines Beiratsmitgliedes September 2018

Artikel eines Beiratsmitgliedes – September 2018

Berliner Studie zur Verwendung einer Informations-App zur Begleitung des zu Hause durchgeführten medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs.

Jana Maeffert, Julia Bartley*

*Leiterin der Abteilung Reproduktionsmedizin
Universitätsklinikum Magdeburg
Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Geburtshilfe und Reproduktionsmedizin
Gerhart-Hauptmann-Straße 35
39108 Magdeburg

Der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch (mSAB) ist eine international etablierte Methode, die in Wirksamkeit und Sicherheit mit dem chirurgischen SAB vergleichbar ist. Beim mSAB wird eine Blutung nach einem uterinen „priming“ mit einem Antigestagen durch ein Prostaglandin induziert. Die häufigsten verwendeten Medikamente sind 200mg Mifepriston, 36-48 Stunden später gefolgt von 400-800μg Misoprostol. Die hohe Sicherheit dieser Methode hat in den letzten Jahren dazu geführt, einen sogenannten „home use“ anzubieten: das Antigestagen wird zumeist in einer medizinischen Institution eingenommen, während die Blutungsinduktion durch das Prostaglandin zu Hause erfolgt.

In europäischen Studien entscheiden sich Frauen mehrheitlich für den mSAB, wenn ihnen die Wahl gegeben wird, Gleiches gilt für den „home use“. Insbesondere das Gefühl größerer Autonomie und Privatsphäre werden als Begründungen für diese Entscheidungen angeführt. Eine gute Beratung und Begleitung bleiben aber weiterhin entscheidend für eine gute Akzeptanz der Methode und Verarbeitung des SAB.

In Deutschland findet – im Gegensatz zu den meisten anderen westlichen europäischen Ländern – der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch wenig Anwendung. Allerdings gibt es innerhalb Deutschlands bemerkenswerte regionale Unterschiede: in einigen Bundesländern macht der mSAB weniger als 10% in anderen Bundesländern mehr als 50% aller SAB aus. Ein Grund dafür könnten strukturelle Besonderheiten des deutschen Gesundheitssystems sein (z.B. Bestellung von Mifepriston, Abrechnung über Kostenerstattung), die es den niedergelassenen Frauenärzten erschweren, den mSAB anzubieten. Eine Berliner Befragung von Frauen, die vor der Entscheidung zu einem SAB standen, lässt jedoch vermuten, dass Frauen auch in Deutschland diese Methode grundsätzlich befürworten und der aktuelle Anteil des mSAB nicht unbedingt die Haltung deutscher Frauen zum mSAB darstellt.

Die geringe Verwendung des mSAB hat Berliner Gynäkologinnen veranlasst, eine Informations-App zu entwickeln. Diese App sendet den Frauen zu bestimmten Zeitpunkten beruhigende, bestätigende und erinnernde Nachrichten. Des Weiteren bietet die App eine umfangreiche Liste mit Antworten auf häufig gestellte Fragen an, die den Frauen nach eigenem Bedarf zur Verfügung steht. Die Bereitstellung dieser Informations-App soll vor allem den Patientinnen das Erleben und die Akzeptanz des mSAB erleichtern. Des Weiteren soll die App aber auch den Frauenärzten eine Hilfestellung sein und dazu beitragen, die Akzeptanz zu verbessern und die Betreuung von Frauen während mSAB zu erleichtern.

Diese Hypothese wird derzeit in einer prospektiv randomisiert kontrollierten Studie geprüft. Patientinnen, die sich zu einem mSAB nach Beratungsregelung (§218 StGB) entscheiden und das Gestationsalter von £ 9+0 Wochen p.m, nicht überschreiten, wird in fünf Prüfzentren die Teilnahme an der vorliegenden Studie angeboten. Die Patientinnen werden in einem ärztlichen Beratungsgespräch über beide Verfahren des SAB, chirurgisch und medikamentös, informiert und haben die freie Wahl zu einer der beiden Methoden.

Die Patientinnen, die an der Studie teilnehmen, werden in zwei Gruppen randomisiert: die aktive Behandlungsgruppe erhält die App mit den illustrierten Nachrichten auf ihrem Mobiltelefon; der anderen Gruppe wird die App nicht zur Verfügung gestellt.

Abgesehen von der App erhalten die Patientinnen in beiden Gruppen die gleiche medizinische Zuwendung und Behandlung, Aufklärung und schriftliches Informationsmaterial,

Mehrere Hypothesen sollen mit der Studie untersucht werden:

Anhand von drei psychologischen Fragebögen – dem „Brief Symptom Inventory 18 (BSI-18), Impact of Event Scale Revised” (IES-R) und „Hospital Anxiety and Depression Scales“ (HADS) wird die Haupthypothese evaluiert, ob die Verwendung der Informations-App Patientinnen zu einer Reduktion psychologischer Belastungssymptomen führt.

Alle Fragebögen werden von den Patientinnen vor und 7-10 Tage nach dem mSAB von der Patientin in den Studienzentren selbstständig ausgefüllt.

Darüber hinaus wird untersucht, ob die Nutzung der App die Belastung durch die klinischen Symptome – die subjektive Wahrnehmung von Blutungsstärke und Schmerz – verringert. Dazu werden in einem zusätzlichen Fragebogen Angaben erfragt zur Schmerzstärke (VAS 0-10), Schmerzmedikamenten-Einnahme, Blutungsstärke und subjektive Zufriedenheit mit der Methode (Skala 0-10) gestellt.

Derzeit findet eine Auswertung der Pilotphase von 30 Patientinnen statt. Diese Ergebnisse werden für eine power Kalkulation zur Festlegung der endgültigen Studiengröße herangezogen, die voraussichtlich bei 200 bis 500 Patientinnen liegen wird. Über die Ergebnisse werden wir hier berichten.

Referenzen:

  1. Beck JG, Grant DM, Read JP, et al. The Impact of Event Scale-revised: Psychometric Properties in a Sample of Motor Vehicle Accident Survivors. J Anxiety Disord. 2008; 22: 187-198
  2. Constant D, de Tolly K, Harris J. et al. Mobile phone messages to provide support to women during the home phase of medical abortion in South Africa: a randomised controlled trial. Contraception. 2014; 90: 226-233
  3. Frank GH, Jaeger S, Glaesmer H, et al. Psychometric analysis of the brief symptom inventory 18 (BSI-18) in a representative German sample. BMC Med Res Method. 2017; 17:14
  4. Foster DG, Steinberg JR, Roberts SCM, et al A comparison of depression and anxiety symptom trajectories between women who had an abortion and women denied one. Psychol Med. 2015; 45: 2073-2082
  5. Hemmerling A, Siedentopf F, Kentenich H. Emotional impact and acceptability of medical abortion with mifepristone: A German experience. J Psychosom Obestet Gynaecol. 2005; 26: 23-31
  6. Maercker A, Schützwohl M. Erfassung von psychischen Belastungsfolgen: Die Impact of Event Skala-revidierte Version (IES-R). Diagnostica. 1998; 44: 130-141
  7. Major B. Richards R, Cooper ML, et al. Personal Resilience, Cognitive Appraisal, and Coping: An Integrative Model of Adjustment to Abortion. J Personality Soc Psychol. 1998; 74:735-752
  8. Norton S, Cosco T, Doyle F, Ward M, et al. Latent structure of the Hospital Anxiety and Depression Scale: a 10-year systematic review. J Psychosom Res. 2012; 72: 180-184
  9. Spitzer C, Hammer S, Löwe B, et al. Die Kurzform des Brief Symptom Inventory (BSI-18): erste Befunde zu den psychometrischen Kennwerten der deutschen Version. Fortschr Neurol Psychiat. 2011; 79: 517-523

Zu den Mitgliedern des Beirats der DGPFG

Dr. Julia Bartley, Magdeburg

Gyne 04/2018 – „Ein bisschen Beckenbodengymnastik“ oder Die Physiotherapeutische Prävention und Therapie der Beckenbodendysfunktion?

Gyne 04/2018

„Ein bisschen Beckenbodengymnastik“ oder Die Physiotherapeutische Prävention und Therapie der Beckenbodendysfunktion?

Autorin: Christiane Rothe

 

Einleitung

Die Prävention von Beckenbodenfunktionsstörung wird häufig gewünscht.

Die „Beckenbodenschule“ ist als Präventionsmaßnahme bei der Zentralen Prüfstelle für Prävention zertifiziert und wird bundesweit angeboten. Es werden die Elemente präventiven physiotherapeutischen Arbeitens dargestellt und die Abgrenzung zur Therapie verdeutlicht. Präventives Arbeiten begleitet eine Verhaltensänderung durch Gesprächsführung und Körperarbeit, eingebunden in eine Gruppensituation. Sie unterstützt die Klientinnen in der Einschätzung ihrer individuellen Gesundheitssituation, der daraus abzuleitenden Verhaltensanpassung und/oder des weiteren Therapiebedarfs.

Im Unterschied dazu steht die individuelle, befundorientierte konservative Therapie der Beckenbodendysfunktion in der Hand der Physiotherapie. Der Clinical-Reasoning-Prozess leitet die Physiotherapie durch den Behandlungsprozess, der im interdisziplinären Kontext gesehen werden kann. Spezialisierte Physiotherapie im Bereich Urogynäkologie ist für die Patientinnen ein kostengünstiger und wirkungsvoller Weg, die Symptomatik zu verbessern. Die geschützte Therapiebeziehung ist bei diesen schambesetzten Themen von hohemWert. Es werden Aspekte der spezialisierten Physiotherapie dargestellt, die die Patientin erwartet.

Im Kontext einiger konservativer und operativer Therapieoptionen bei den häufigsten Erkrankungen, die als Beckenbodendysfunktion beschrieben werden (Belastungsinkontinenz, Urge- Problematik, Organsenkungen des kleinen Beckens), wird retrospektiv häufig die Prävention der Beckenbodendysfunktion gefordert.

Primär- und Sekundär-Prävention und Therapie durch die spezialisierte Physiotherapie

Die Gesundheit des Beckenbodens unterliegt vielfältigen Einflussfaktoren. So kann das Erlernen des Miktionsverhaltens im Kleinkindalter, die Prägung in der Zeit erster Sexualerfahrung, die Geburtsbegleitung, das Sportverhalten, die Arbeitssituation bis zur Wirkung durch die Werbung auf die Beckenbodengesundheit Einfluss nehmen. Auch Ernährungsgewohnheiten, das Körpergewicht sowie das Körpergefühl und der Wissensstand beeinflussen diesen Funktionsbereich. Das wird in Biografien von Patientinnen mit Beckenbodendysfunktionen besonders deutlich. Epidemiologische Studien bestätigen diesen Eindruck [1].

Patientinnen, Ärzte und Mitglieder anderer Gesundheitsberufe fühlen sich häufig unzureichend über die Möglichkeiten von Prävention und Physiotherapie informiert. Betroffene suchen vielfach Unterstützung bei Prävention und Therapie [2].

Die Zentrale Prüfstelle hat im Rahmen des Gesetzes § 20 SGB V und des Präventionsleitfadens [3] die Verpflichtung, Präventionsangebote zu zertifizieren und damit für die Teilnehmerinnen teilweise eine Kostenübernahme zu ermöglichen. So soll Prävention einkommensunabhängig möglich werden, und so kommen die Krankenkassen ihrer Verpflichtung zum Angebot präventiver Maßnahmen nach. Die „Beckenbodenschule“ der AG GGUP/Physio Deutschland ist nach diesem aufwändigen Verfahren zertifiziert.

Gemäß der Ottawa-Charta sollen Menschen zur Erhaltung undWiederherstellung persönliche Kompetenzen entwickeln dürfen, z. B. mit körperlichen Veränderungen in verschiedenen Phasen des Lebens (u. a. auch mit chron. Erkrankungen) umgehen zu können [4, 5].

Gesundheitsbildungs- und Präventionsmaßnahmen sollen diese Möglichkeit schaffen. Ein Bewusstsein für einen aufkommenden individuellen Bedarf entsteht zu unterschiedlichen Lebensphasen und ist abhängig von der Familiensituation, dem Bildungsstand, dem Gesundheitssystem und der Persönlichkeitsstruktur.

Im Bereich der Beckenbodengesundheit entsteht bei Frauen in besonderen Lebensübergängen (Schwangerschaft, postpartal, Menopause, Eintritt in den Ruhestand, prä- und postoperativ bei Korrekturoperationen) ein erhöhte Sensibilität für das Thema. Gleichzeitig ist bekannt, dass bestimmte Gruppen ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Beckenbodendysfunktion tragen. Auch aus diesen Gruppen kommt der Wunsch nach Prävention, die hier häufig auch eine Sekundärprävention ist.

So können die Klientinnen einer Präventionsmaßnahme eine breite Altersspanne und sehr inhomogene Gesundheitssituation aufweisen. Häufig ergeben genauere Nachfragen den Verdacht auf Diagnosen, die eindeutig zeigen, dass es sich hier nicht um Primärprävention handelt und eine Berechtigung zur individuellen Physiotherapie nach der Heilmittelverordnung vorliegt. Die Teilnahme an der Beckenbodenschule ist dadurch aber nicht ausgeschlossen. Eine zeitlich parallele Durchführung einer Präventionsmaßnahme nach § 20 ist neben einer Verordnung für Physiotherapie gemäß Heilmittelkatalog nicht erlaubt.

Die vorgeschriebene Eingangsevaluation zeigt die Motivation, an diesem Kurs teilzunehmen. Die Durchführung des Präventionsmodells „Beckenbodenschule“ ist sowohl aus pädagogischen Gründen als auch aus bewegungspädagogischen und trainingsbezogenen Parametern in sich aufbauend strukturiert. Orientiert nach dem 4-Phasenmodell nach Hilarion Petzold hat jede Stunde einen Aufbau, weswegen die Teilnahme auch aus Sicht der Krankenkasse verpflichtend sein sollte. Nur bei einer Teilnahme von mind. 80 % der Zeit wird eine rückwirkende Kostenübernahme mit einer Teilnahmebescheinigung möglich.

Der Erfolg der „Beckenbodenschule“ beruht auf derWechselwirkung von: Erhalt und Steigerung des Gesundheitswissens, physiotherapeutischer Körperarbeit, reflektierender Gesprächsführung durch die Kursleitung und der Wirkung des gruppendynamischen Prozesses.

Aufbau des Gesundheitswissens und physiotherapeutische Körperarbeit

Jede Stunde hat einen Schwerpunkt, der zunächst mit einem theoretischen Input, z. B. zur Anatomie des Beckenbodens, startet. Dann werden in verschiedenen Ausgangsstellungen, die Einfluss auf die Körperwahrnehmung des Beckenbodens nehmen, eingenommen und verschieden isolierte Anspannungs- und Entspannungsaufträge erarbeitet. Ständiges Feedback durch die Kursleitung hilft über Unsicherheiten hinweg und lässt zunehmend das interne Feedback wichtiger und sicherer werden, welches am Ende des Kurses klar von den Teilnehmerinnen rekapituliert werden kann. Die exakte Anleitung, die Korrektur von Ausgangsstellung und Ausführung sowie die Übungsauswahl orientieren sich an neuesten Erkenntnissen der Bewegungssteuerung und Re-Edukation von Beckenboden- und Bauchmuskulatur. Zunächst ist derWiedergewinn der Körperwahrnehmung der Beckenbodenmuskulatur, die Schulung der Anund Entspannung im Vordergrund, bevor Kraft und Kraft-Ausdauer geübt werden. Ziel ist eine reaktionsbereite Muskulatur, die in verschiedenen Lebenssituationen bewusst eingesetzt werden kann. Die sprachliche Interpretation der Muskelfunktion leitet hier verschiedene Aktivitäten ein. So kann von den Klientinnen der Unterschied zwischen „anspannen, umgreifen, lösen und mitschwingen“ zunehmend gespürt werden.

Die isolierte, an die Atmung angepasste, bewusste Aktivierung des Beckenbodens wird dann zunehmend mit der Aktivierung der Bauchmuskulatur, dem Haltungsbewusstsein, der Wirbelsäulen- und Hüftgelenksbeweglichkeit kombiniert (EAbb. 1). So erleben die Teilnehmerinnen eine Vielzahl von Übungsangeboten, aus denen sie sich, unterstützt durch die Kursleitung, ein individualisiertes Hausaufgabenprogramm entwickeln. Die Integration dieser komplexen, neu „wieder“ zu lernenden Körpererfahrungen findet dann auch in der Erarbeitung von Alltagssituationen statt. Auch hier ist die Suche nach den Bewegungsressourcen entscheidend, wodurch die Teilnahme von Frauen möglich wird, die z. T. bei Breitensportangeboten keinen Platz finden.

Die Gesprächsführung durch die Kursleitung ist patientenzentriert (nach Rogers). Vor allem in reflektierenden Gesprächssituationen unterstützt die Kursleitung die Einordnung in das individuelle Gesundheitserleben. Emotionale Erlebnisse, die zu Veränderungen der Beckenbodenfunktion geführt haben und jetzt verbalisiert werden, dürfen benannt werden. Die innere Haltung der Physiotherapeutin kann die Klientin dabei unterstützen, einerseits diese emotionale Verbindung zu sehen, schafft aber auch die Möglichkeit, mit dieser Körperregion neue Erfahrungen zu machen. So thematisieren Frauen die Geburtserlebnisse oder den Verlust des Uterus. Dieses häufig sehr pathogenetisch orientierte Denken der Klientinnen wird, begleitet durch die Kursleitung, in ein bio-psychosoziales Verstehen übergeführt [6]. Am Ende des Kurses wird idealerweise die Fähigkeit geschult, die eigenen Ressourcen der Beckenbodengesundheit zu erkennen und zukünftig zu pflegen und zu verbessern. So kann die Kompetenz wachsen, sich mit ungünstigen Einflussfaktoren in der Lebenswelt bezüglich der Beckenbodengesundheit aktiver auseinander zu setzten. Das entspricht dem salutogenetischen Denken und kann damit auch alle auf die Becken- Faktoren integrieren.

Die Rolle der Kursleitung wird im Laufe der 8 x 75 min Kurszeit als Orientierung weniger wichtig, da die Klientinnen zunehmend zur eigenen Expertin ihrer Beckenbodengesundheit werden.

Das Ableiten weiterer Schritte, z. B. ärztliche Beratung zur Operation, Unterstützung beim Erkennen psychotherapeutischer Therapiebedarfe, Anregung zur Wiederaufnahme von Sport oder die Anregung zu Gewichtsreduktion, können entstehen [7–11].

In der Prävention kann der Gruppenprozess den ressourcenorientierten Ansatz unterstützen: Die emotionale Anteilnahme durch die Gruppenmitglieder fördert die eigene Standortbestimmung und kann die Tabuisierung reduzieren. Durch die Bezugnahme untereinander entstehen Elemente der Bestätigung und Bestärkung. Das gemeinsame Reflektieren des Übungsverhaltens und des Einordnens von Körpererfahrungen erweitert das Spektrum der eigenen Bewegungsmöglichkeiten. Da die Klientinnen in die Verantwortung genommen werden, über ihr Übungsverhalten zu berichten, kann sich das Gelernte durch Wiederholung verdichten. Ganz besonders positiv verstärkend kann es erlebt werden, wenn das neu Gelernte im Alltag zur Verbesserung der Situation geführt hat und durch die anderen Gruppenmitglieder positiv (oft nonverbal) wahrgenommen wird.

Die Grenzen zwischen Prävention und Therapie sind für die Betroffenen fließend, formal sind sie klar vorhanden. Spezialisierte Physiotherapie verbindet physiotherapeutisches Handeln mit Wissen aus der Urogynäkologie und steuert den individuellen Therapieprozess.

Die vorherige Teilnahme an einer Präventionsmaßnahme oder klassischerweise die Rezeptierung gemäß Heilmittelkatalog durch Gynäkologen, Urologen, Proktologen und Hausärzte bringen die Patientinnen in die physiotherapeutische Spezialpraxis.

In der spezifischen Physiotherapie wird zunächst ein individueller Befund durchgeführt. Aufbauend auf ärztlichen Befunden (z. B. Uroflowmetrie, OP-Berichte) erhebt die Physiotherapie eine spezifische Anamnese, die dann wegweisend für weitere Assessments ist. Es werden dann mit (validierten) Fragebögen, strukturbezogenen Assessments (z. B. vaginalanorektale Untersuchung zur Struktur- Funktionsanalyse der Beckenboden- und Sphinktermuskulatur) [12], strukturbezogene Untersuchungen im Bereich Wirbelsäule, ISG, Becken sowie der Becken bzw. Bein umgebenden Muskulatur die physiotherapeutische Hypothese untermauert.

In Abstimmung mit den Patientenbedürfnissen und dem Rahmen, der durch die Verordnungsmenge definiert ist, wird ein individueller Behandlungsplan erstellt, mit physiotherapeutischen Therapiezielen differenziert und am Ende evaluiert. Auf Verlangen wird der Therapiebericht dem verordnenden Arzt zugestellt.

Hier kann nun das aktive Bewegungslernen, wie es auch in der Prävention umgesetzt wird, durch passive Maßnahmen unterstützt werden (EAbb. 2). Diese können im Gewebe die Durchblutung anregen, die Verschieblichkeit von Organen verbessern, Bandstrukturen entlastet und die neuromuskuläre Steuerung verbessern. Gleichzeitig kann durch individuelle Anregung der Propriorezeption das Bewegungslernen individuell unterstützt und durch Anpassung von Übungssituationen erweitert werden. So wird das Bewegungslernen hier individuell unterstützt und durch das Eigenübungsprogramm motivierend vertieft.

Gezieltes Training der Beckenbodenmuskulatur bei Belastungsinkontinenz ist effektiv und wird als Behandlungsmaßnahme in den Leitlinien mit Level of Evidence 1a, Empfehlungsgrad A, bewertet [13].

Die Erklärungsmodelle für die Beckenbodenfunktion sind geprägt durch dasWissen aus der funktionellen Anatomie, den theoretischen Modellen für operative Korrekturen und aus pathophysiologischen Erklärungsmodellen. Diese und die Einflussfaktoren für die Entstehung einer Belastungsinkontinenz sind funktionell gut verständlich und die Symptome durch Physiotherapie gut beeinflussbar [14–17].

Die Verbesserung der Koordination, der Ausdauer und der Kraft der kontinenzgebenden aktiven Strukturen können so erarbeitet werden, Synergisten mit eingebunden und Antagonisten funktionell eingepasst werden. Eine funktionsbereite Muskulatur, die auch gut relaxieren und den Tonus auf die individuellen Situationen (schweres Heben, körperliche Ruhe, gefüllte Blase, Geschlechtsverkehr …) anpassen kann, ist das Ziel (EAbb. 3, S. 22).

Die Feedbackfunktion durch die vaginal- anorektale Palpation bei der Physiotherapie wird empfohlen und von den Patientinnen als hilfreich erachtet [12]. Genau diese einzelnen Fähigkeiten werden durch vielfältige Aufträge und Spürhilfen erarbeitet und mit Bewegungen derWirbelsäule, der Hüftgelenke und aller Bewegungsabschnitte des Körpers kombi- niert. Elektrotherapie, Biofeedbackgeräte, funktioneller Ultraschall und Vibrationstherapie können diese Vorgehensweise ergänzen. Die Integration in die physiologische Haltung und die Übertragung in körperliche Belastungssituationen und den Alltag unterstützt die Physiotherapie [18–21]. Hierbei spielt auch die Erarbeitung von günstigen Positionen beim Husten, Niesen, Naseputzen und bei der Entleerung von Blase und Darm eine Rolle [22].

Auch in der Therapie der Belastungsund Urge-Inkontinenz sind Themen wie individuelle Copingstrategien, Veränderungen des Körpers in den verschiedenen Lebensphasen einer Frau sowie die Wechselwirkungen durch die sexuellen Beziehungen ständig präsent. Parallel zur Körperarbeit kann die Physiotherapie durch sensible Fragen und aktives Zuhören die Aufmerksamkeit auf mögliche Zusammenhänge und günstige oder weniger günstige Anpassungen lenken.

Wechselwirkungen mit Medikamenten, die Lebensstilberatung, die Berücksichtigung von Komorbiditäten (Apoplex, MS, M. Parkinson) lassen die Situation komplex werden und stellen auch für die Physiotherapie eine Herausforderung dar.

Die physiotherapeutische Begleitung einer Urge-Inkontinenz oder Urge- Problematik zeigt die Komplexität einer solchen Funktionsstörung auf [22–24]. Hier ist in besonderer Weise die Speicherfähigkeit der Blase irritierbar, und es zeigen die Erfahrung sowie einzelne Studien, wie sehr Bewältigungsstrategien für Drangprobleme, Entspannungsmethoden und eine reflektierende Gesprächsführung zur positiven Beeinflussung des Problems führen kann. Hier können die Patientinnen das ganz persönliche Erleben reflektieren und neu, z. B. mithilfe des Miktionsprotokolls, einordnen. Das Erkennen drangauslösender Situationen und deren behutsame Anpassung und Integration in den Alltag sind Ziel der Behandlung. Ergänzt wird dieser Veränderungsprozess mit Anregungen zur Durchblutungsverbesserung, z. B. durch passive Maßnahmen, besonders im Segment und der Brustund Lendenwirbelsäule, oder die manuelle Behandlung des Kiefergelenks. Die Physiotherapie hat hier viele Möglichkeiten der direkten und indirekten Einflussnahme über nervale, muskuläre und ligamentäre Strukturen.

Diese Einflussnahme kann auch günstig in der konservativen Therapie der verschiedenen Senkungsveränderungen wirken. Organsenkungen im kleinen Becken können durch gezielte Entlastungspositionen, Aktivierung der haltenden Strukturen, Entlastung der Bandstrukturen und Verhinderung weiterer belastendender Faktoren begleitet werden. Alltagssituationen, wie die Entleerung auf der Toilette, das Bück- und Hebeverhalten, können häufig angepasst werden, um die passiven und aktiven Strukturen nicht weiter zu belasten.

Häufig ist so die Physiotherapie die notwendige Ergänzung zur Pessartherapie und kann so Senkungsoperationen prä- und postoperativ unterstützen oder den Zeitpunkt der Operation verschieben. Letztlich kann der Patientin auch so eine Möglichkeit gegeben werden, die Symptome einzuordnen und für sich zu entscheiden, ob eine Operation – zur weiteren Verbesserung der Symptome – angestrebt wird oder nicht. Auch hier bewährt sich die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem überweisenden Facharzt. Dies unterstützt die Patientin in Ihrer Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Auch postoperativ hat die Physiotherapie die Möglichkeit, gemäß der Wundheilungsphasen die Funktion der Beckenstrukturen zu unterstützen und so die veränderte Körperlichkeit in das Bewegungserleben zu integrieren.

Die Autorin ist Physiotherapeutin (Physio Pelvica), Lehrkraft für Physiotherapie, Sozialtrainerin, integriert in die physiotherapeutische Arbeit Kenntnisse aus der Sexualberatung (DGFS) und Psychosomatik (DGPFG) und arbeitet in der Therapie, Prävention, Lehre und Weiterbildung. Sie ist Mitglied der AGGGUP/Physio Deutschland, der DKG und der DGPFG.

Slide „Ein bisschen Beckenbodengymnastik“ oder Gyne 04/2018 Die Physiotherapeutische Prävention und Therapie der Beckenbodendysfunktion?

Literatur

  1. Robert Koch-Institut, Statistisches Bundesamt. Harninkontinenz. Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2007; Heft 39.
  2. Franzkowiak, P. Prävention. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Hrsg. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden der Gesundheitsförderung. 4. Aufl. Schwabenheim a. d. Selz: Fachverlag Peter Sabo; 2004.
  3. Leitfaden Prävention. https://www.gkv-spitzenverband. de/krankenversicherung/praevention_ selbsthilfe_beratung/praevention_ unu_bgf/leitfaden_praevention/leitfaden_ praevention.jsp. Zugegriffen: 5.6.2018.
  4. Rolf Rosenbrock. Die Umsetzung der Ottawa Charta in Deutschland. Prävention und Gesundheitsförderung im gesellschaftlichen Umgang mit Gesundheit und Krankheit. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung; 1998.
  5. Helferich C,Wimmer-Puchinger B. Die Bedeutung der Ottawa-Charta für die Gesundheit von Frauen. Prävention. 1996; 19 (2): 43–45.
  6. WHO. International classification of functioning, disability and health. http://apps.who.int/iris/bitstream/handle/ 10665/43737/9789241547321_eng.pdf;sequence= 1. Zugegriffen: 5.6.2018.
  7. Subak LL.Weight loss to treat urinary incontinence in overweight and obese women. N Engl J Med. 2009 Jan 29; 360(5): 481–490.
  8. Steininger K, Buchbauer J. Funktionelles Kraftaufbautraining in der Rehabilitation. 5. Aufl. Urban und Fischer; 2004.
  9. Vandenboorn H, Romme K, Schellings C. Prävention in der Physiotherapie. Urban & Fischer; 2001.
  10. Hay-Smith J, Herbison P, Morkved S. Physical therapies for prevention of urinary and faecal incontinence in adults. Cochrane Database Syst Rev. 2002; (2): CD003191.
  11. Gauruder-Burmester A, Kroencke T, Klink M, Tunn R. Gewichtsreduktion bei Übergewicht und Adipositas und deren Auswirkungen auf Sexualität, Harn- und Analinkontinenz, Descensus genitalis und Lebensqualität. Geburtshilfe Frauenheilk. 2007; 67: 866–872.
  12. www.urologenportal.de/fileadmin/ MDB/Images/Newsboard/Spezialisierte_ Physiotherapie_in_der_Urologie_V3.pdf.
  13. http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/ 015005k_Belastungsinkontinenz_ 2013.pdf.
  14. Reisenauer C, et al. Interdisziplinäre S2e- Leitlinie für die Diagnostik und Therapie der Belastungsinkontinenz der Frau. Geburtsh Frauenheilkd. 2013: 1–50.
  15. Bo K, Berghmans B, Morkved S, van Kampen M, eds. Evidence-Based Physical Therapy for the Pelvic Floor. Churchill Livingstone; 2007.
  16. Dumoulin C, Hay-Smith EJ, Mac Habée- Séguin G. Pelvic floor muscle training versus no treatment, or inactive control treatments, for urinary incontinence in women. Cochrane Database Syst Rev. 2014 May 14; (5): CD005654.
  17. Dumoulin C, Hay-Smith EJ, Mac Habée- Séguin G. Pelvic floor muscle training versus no treatment, or inactive control treatments, for urinary incontinence in women. Cochrane Database Syst Rev. 2010 Jan 20; (1): CD005654.
  18. Baessler K, eds., et al. Pelvic Floor Re-education. Principles and Practice. 2. Aufl. London: Springer; 2008.
  19. Sapsford R. Rehabilitation of pelvic floor muscles utilizing trunk stabilization. Man Ther. 2004; 9 (1): 3–12.
  20. Sherburn M. Incontinence improves in older women after intensive pelvic floor muscle training: an assessor-blinded randomized controlled trial. Neurourol Urodyn. 2011 Mar; 30(3): 17–24.
  21. Sriboonreung T, et al. Effectiveness of pelvic floor muscle training in incontinent women at Maharaj Nakorn Chiang Mai Hospital: a randomized controlled trial. J Med Assoc Thai. 2011 Jan; 94(1): 1–7.
  22. Ashton-Miller JA, Delancey J. The Knack: use precisely-timed contraction can reduce leakage in SUI. Neurolurol Urodyn. 1996; 15(4): 392–393.
  23. Paterson J, Pinnock C, Marshall V. Pelvic floor exercises as a treatment for post-micturion dribble. Br J Urolog. 1997; 79(6): 892–893.
  24. Shafik A, Shafik I. Overactive bladder inhibition in response to pelvic floor muscle exercises. World J Urol. 2003 May; 20(6): 374–377.

Weiterführende Literatur:

Hsiu-Chuan H, Sheng-Mou H, Shu-Yun C, Ho- Hsiung L, Jau-Yih T. (2010) An alternative intervention for urinary incontinence: Retraining diaphragmatic, deep abdominal and pelvic floor muscle coordinated function. Z. Manual Therapie. 2010; Vol 15, Issue 3, June 2010, P. 273-

Madill, SJ,; McLean, L. (2006). Relationships between abdominal and pelvic floor muscle activation and intravaginal pressure during pelvic floor muscle contractions in health continent women. Neuroulogy and Urodynamics. 2006; 25(7): 722-730.

  1. ttgart 2012: 214–22

Gyne 03/2018 – Gynäkologische Onkologie in der Klinik – Zwischen Handeln und Halten

Gyne 03/2018

Gynäkologische Onkologie in der Klinik – Zwischen Handeln und Halten

Autorin: Jessica Groß

 

Die Aufgabe als Kliniker in der onkologischen  Versorgung von Patientinnen  liegt primär im Bereich des medizinischen  Handels. Sinnvoll ist dies in  den Bereichen Diagnostik, Therapie  und palliative Versorgung. Oft führt  sie aber auch zu einer ärztlichen Haltung,  die wenig Raum für Emotionen  lässt. Im Gegensatz zu PsychoonkologInnen,  die in unterschiedlicher  Weise in die Versorgung der Patienten  eingebunden sind, liegt der Fokus  von ÄrztInnenn im praktischen  Diagnostizieren und Behandeln, sei  es medikamentös oder operativ. Darin  liegt sowohl eine Chance als auch  ein Risiko: Durch das körperliche Behandeln  entsteht eine besondere  Bindung zu den Patienten/innen; der  medizinische Aktivismus lässt jedoch  oft wenig Raum für Emotionen.

Psychoonkologische Versorgung 

Die psychoonkologische Betreuung  ist seit vielen Jahren im Klinikalltag  etabliert. Sie wird in erster Linie  durch speziell ausgebildete PsychoonkologInnen  geleistet. Praktiziert  wird dabei unterschiedlich: In manchen  Abteilungen begleiten die PsychoonkologInnen  die ärztlichen Visiten  und besuchen alle onkologischen  Patienten. Bei anderen behandeln  sie nur die mit Beratungswunsch  oder Patienten, bei denen  das ärztliche oder pflegerische Personal  eine Indikation sieht. Zudem  kann ein Screening auf Belastung  (Distress) mit unterschiedlichen standardisierten  Instrumenten durchgeführt  werden. Durch die Fachgesellschaften  und die S3-Leitlinien für  Brustkrebs und Psychoonkologie  wird ein standardmäßiges Screening  mit validierten Instrumenten gefordert  [1, 2]. Dieses muss für die Zertifizierung  von Brustkrebszentren  und gynäkologischen Krebszentren  nachgewiesen werden. Grundlage  für diese Vorgaben ist zum einen die  Prävalenz psychischer Belastung im  Sinne von klinisch relevanter Depression  oder Stimmungsbeeinträchtigung  bei onkologischen Krankenhauspatienten  in bis zu 40 %der Fälle  [3]. Zum anderen spielt die Evidenz  der Wirksamkeit psychoonkologischer  Interventionen, die mit messbareren  Effekten auf emotionalen  Distress und Lebensqualität assoziiert  sind, eine Rolle [4].

Dabei ist die Durchführung eines  Screenings und der Einsatz standardisierter  Messinstrumente auch in  der psychoonkologischen Fachdiskussion  umstritten: Die Evidenz, dass  Screening-Programme die Detektion  der Belastung von Patientinnen (Distress)  verbessern und dadurch ihr  Wohlbefinden steigern, ist inkonsistent  [5]. Es gibt Patienten ohne erhöhte  Distresswerte, die sich psychoonkologische  Betreuung wünschen,  während es deutlich belastete  Patientinnen ablehnen. Die Ergebnisse  von Screening-Instrumenten  sind auch davon abhängig, in  welchem Setting und von wem sie  angewendet werden. Darüber hinaus  ist bei der Diagnose von  „psychological disorders“ noch immer  unklar, welche Intervention hilfreich  ist [5]. Die Auffälligkeiten von  Patientinnen mit Mammakarzinom  in standardisierten Instrumenten  (Hornheider Fragebogen, Hospital  Anxiety and Depression Scale), das  von ihnen selbst geäußerte Bedürfnis  nach psychoonkologischer Unterstützung  sowie die Einschätzung  von ÄrztInnenn und anderen Mitgliedern  des Behandlungsteams  nach Unterstützungsbedarf, variiert  deutlich [6]. Auch in einer deutschlandweiten  Multicenterstudie von  4.020 Krebspatienten korrespondierten  die gemessenen Distresswerte  (Distress-Thermometer, Patient  Health Questionnaire) nicht mit dem  Wunsch nach psychoonkologischer  Unterstützung [7]. Die Inanspruchnahme  psychoonkologischer Unterstützung  ist darüber hinaus vom Geschlecht,  Bildungsgrad, Familienstand  und sozioökonomischen Faktoren  abhängig [7, 9]. Jüngere Frauen  mit höherer Bildung äußerten dabei  häufiger Unterstützungsbedarf und  es besteht ein deutliches Stadt-Land-  Gefälle. Menschen aus größeren  Städten erhielten insbesondere in  Krebsberatungsstellen doppelt so  häufig eine Versorgung wie Personen  aus kleineren Orten [9].

Persönliche klinische Interviews weisen  auf mehr Betroffene mit erhöhten  Distress, als durch Fragebögen  erfasst werden, hin [8]. Im Gegensatz  zu ambulanten Krebsberatungsstellen,  die die Patienten/innen  aktiv aufsuchenmüssen, konnten im  stationären Setting mehr und unterschiedlichere  Patientengruppen erreicht  werden [9].

Rolle von ÄrztInnenn 

Die professionelle psychoonkologische  Betreuung durch speziell weitergebildete  Psychologen in der Klinik  ist wichtig und hilfreich. Doch  auch die Rolle von ÄrztInnenn ist für  die emotionale Situation der Patienten/  innen zentral. Sie sind in der Regel  die wichtigsten Ansprech- und  Vertrauenspersonen im Behandlungsprozess.  Weiß et al argumentiert  zur Diskrepanz zwischen Distress  und Inanspruchnahme psychoonkologischer  Betreuung zum  Zeitpunkt der Erstdiagnose bei  Mammakarzinompatientinnen:  „Möglicherweise sind zur Zeit der  Diagnosestellung, unmittelbar vor  einem chirurgischen Eingriff, Ängste,  Sorgen und ein unspezifisches  Bedürfnis nach Erleichterung und  Unterstützung ausgeprägt, das sich  jedoch eher an die ärztlichen Behandler  richtet“ (S. 200) [10]. Zunächst  sind Distress und akute emotionale  Belastung eine normale Reaktion  auf die Krebsdiagnose „needing  understanding und support  from practioners caring for the  patient“ (S. 263) [5].

Die Bedeutung von Kommunikation  im klinischen Alltag wird von ÄrztInnenn  allerdings oft unterschätzt. Dabei  kann gute Kommunikation sogar  schlechte Medizin kompensieren:  „Selbst wenn die Behandlung gelingt,  die Kommunikation jedoch  weitgehend misslingt, werden Patienten  den Begleitern nie vergeben.  Auf der anderen Seite gilt:Wenn die  Behandlung medizinisch nicht zu einer  Besserung führt, die Kommunikation  aber gelingt, werden Patienten  uns nie vergessen und dennoch  dankbar sein“ (S. 82) [11].

Was ist für eine gelingende  Kommunikation wichtig? 

Im Kontext der normalen ärztlichen  Diagnostik und Therapie von Karzinompatienten  ist die ärztliche Haltung  im Gespräch und in der Behandlung  relevant: „Eine der zentralen  Interventionen ist dabei das empathische  und aufmerksame Zuhören“  (S. 22) [12]. Aktives Zuhören ist  durch Fragen und Rückspiegeln  im Sinne empathischer Antworten  gekennzeichnet. Anstatt sofort Erklärungen  oder Ratschläge zu liefern,  ist die Gewährung von Freiraum  für die Entwicklung und Äußerung  von Gefühlen wichtig. Dies gelingt  vor allem durch Schweigen und  Nachfragen [11].

In der psychoanalytischen Nomenklatur  kann diese Haltung, die Gewährung  dieses Freiraums und das  Aufnehmen der Gefühle des Gegenübers  als Containing bezeichnet  werden. Containing bedeutet, „diese  Gefühle auf sich wirken zu lassen,  sie nachzufühlen. Gewissermaßen  stellt sich der Helfende mit seiner  psychischen Kapazität als Aufbewahrungsort,  als Container für die  Gefühle des anderen zur Verfügung  und achtet darauf, was sie in ihm  selbst auslösen“ (S. 102) [13]. Es  werden nicht sofort Tipps oder Ratschläge  gegeben. „Das Containing-  Konzept ermöglicht es, auch dann in  Kontakt zu bleiben, wenn der Helfende  die Situation noch nicht verstanden  hat oder erkennen muss,  dass er an der Krisensituation […]  selbst nichts ändern kann“  (S.102–103) [13]. Containing von  Gefühlen und Leid bedeutet: „Sprechen  lassen, Anteilnahme, dabei  kein Herunterspielen oder Dramatisieren  der geschilderten Problematik.  Ermutigen, sogenannte negative  Gefühle wie Trauer, Schmerz, Schuld  oderWut zuzulassen und zu zeigen“  (S. 103) [13]. Dann kann es gelingen,  die Patienten bei der Konfrontation  mit der Realität zu stützen.

Das Containing geht auf den britischen  Psychoanalytiker Bion zurück,  der damit zunächst die mütterliche  Haltung gegenüber dem Säugling  beschreibt: Durch Aufnehmen der  Unlustbekundungen des Säuglings,  kann die Mutter oder Bezugsperson  diesem dabei helfen, unerträgliche  Erfahrungen allmählich in erträgliche  zu verwandeln. Containing im  lateinischem Wortsinn continere  bedeutet, „innerhalb fest fixierter  Grenzen halten, beinhalten, […], die  Kapazität besitzen etwas zu halten,  für etwas Raum, Platz oder Potential  zu haben“ (S. 68) [14]. In der Behandlungssituation  geht es darum,  die Gefühle der Patienten aufzunehmen  und ihnen dadurch zu helfen,  diese auch für sich selbst anzunehmen  und zu ertragen. Aufgabe ist  dabei die Kapazität durch die Verbindung  zwischen den beiden Persönlichkeiten  zu stärken und mentalen  Schmerz zu ertragen, bis daraus Bedeutung  erwächst. Anstatt dem  Schmerz durch Verdrängung, Projektion,  Somatisierung, Aggression  oder anderen Mechanismen auszuweichen,  kann er angenommen,  reflektiert, geträumt und gesprochen  werden. Der „Container“  schafft den Ort, „wo die werdende  Wahrheit des „Contained“ erlebt,  wahrgenommen, untersucht und  verstanden werden kann. Dieser  „Container“ ist unsere eigene Psyche,  aber auch die Psyche des anderen  imWechsel“ (S. 89) [14].

Warum gelingt das von ärztlicher Seite so schwer? 

Im ärztlichen Alltag kann und soll keine  psychoanalytische Behandlungssituation  hergestellt werden. Es geht  auch nicht darum, als klinisch tätiger  Arzt die Ansprüche an eine professionelle  Psychotherapie zu erfüllen. Eine  Beziehung findet jedoch ohnehin immer  statt: Bei jeder Begegnung im  Krankenhaus kommunizieren und  gestalten wir die Arzt-Patienten  Interaktion. Das dargestellte Konzept  des Containing liefert dabei Anregungen  für Reflektions- und Lernprozesse,  mit denen wir diese Beziehung  hilfreicher gestalten können.

Für die ärztliche Behandlungssituation  bedeutet das zunächst, den Gefühlen  und Äußerungen von Patienten  Raum zu geben. Verzweiflung,  Wut, Trauer und Hilflosigkeit dürfen  vorhanden sein. Wir sind als Behandelnde  präsent, setzen diesen Gefühlen  aber nicht unmittelbar Maßnahmen  wie Trost entgegen, um sie  zu begrenzen oder auszuschalten.  Da wir als ÄrztInnen im Alltag immer  als Aktive auf der Handlungsebene  gefordert und tätig sind, erscheint  uns das oft als „Aushalten“. Aber  auch das Halten und Bereitstellen eines  Resonanzraums ist Handeln.  Darüber hinaus bleiben wir trotzdem  diejenigen, die für die Diagnose, Sicherheit,  Operationen und dem Einsetzen  von Analgetika oder auch  Psychopharmaka zuständig sind.  Auch im Gespräch müssen wir neben  dem Resonanzraum Orientierung  bieten können. Eine große  Chance für die Arzt-Patienten-  Beziehung ist es hierbei, verschiedene  Instrumente einzusetzen und auf  mehreren Ebenen agieren zu können.  Auch im Kontext körperlicher  Beeinträchtigung durch eine Krebserkrankung  kann psychologischer  Distress unterschiedliche Erfordernisse  wie klinische Behandlungsplanung,  Symptomtherapie oder psychologische  Hilfe signalisieren [5]. Es  ist eine Herausforderung, diese Doppelrolle  aushalten und ausfüllen zu  können.

Der wahrhaftigen Kommunikation  und dem Wahrnehmen von Gefühlen  stehen sowohl unsere eigenen  Ängste, als auch der Wunsch nach  Lösung aller Probleme entgegen.  Diese Erwartung wird von außen an  uns heran getragen, aber auch als eigener  Anspruch reproduziert. „Leidende  ängstliche Patienten setzen  die Mitarbeiter dem permanenten  Druck aus, stets allwissend und omnipotent  sein zu müssen“ (S. 101) [15].  In dem daraus resultierendem Aktivismus  lassen wir schließlich nicht  ausreichend Raum für Emotionen.

Gerade in der palliativen Situation  sind wir oft, insbesondere von Angehörigen,  mit der aggressiven Aufforderung  konfrontiert: „Tun Sie doch  etwas!“. Wenn wir an dieser Stelle  nicht dem Handlungsdruck nachgeben  und Untersuchungen oder Therapien  verordnen, sondern die Aggression  aushalten und die Trauer  und Angst dahinter sehen können, ist  das eine Chance für das Gegenüber,  die eigenen Gefühle anzunehmen.

Nicht hilfreiche Situationen entstehen  meist beimVersuch Hilflosigkeit,  Verzweiflung oder andere „negative“  Gefühle zu „bekämpfen“. Ein  anderes Beispiel dafür ist der Umgang  mit Trauer und der Versuch,  Trost zu spenden. „Diese überwiegend  unbewusste und nicht offen  kommunizierte Auftragshaltung  kann auf beiden Seiten […] einen erheblichen  Stressfaktor darstellen.  Auf der einen Seite nimmt der Trauernde,  der sich berechtigterweise in  einer Situation der Untröstlichkeit  befindet, intuitiv war, dass hier eine  Veränderung und Anpassung gewünscht  und gefordert wird, was  naturgemäß zu einer Widerstandshaltung  und zum Rückzug führt. Auf  der anderen Seite spürt der vermeintliche  Tröster, dass er sich in Bezug  auf seine Zielvorstellung auf verlorenem  Posten befindet, was häufig  zu weiteren, unsäglichen Tröstungsversuchen  führt“ (S. 85) [16].

Als wichtigstes Gegenüber im Behandlungsprozess  müssen wir zwischen  der Rolle des „Containens“  und der Rolle des „Machens“ oszillieren  können. Hier liegt die Chance  für eine gelingende Kommunikation:  Wir sind nahe an den Patientinnen  und werden von ihnen gefordert, im  Kontakt präsent zu sein. Nicht nur in  der palliativen Versorgung ist es  wichtig, die Grenzen der eigenen  Möglichkeiten zu wissen [17] und  diese selbst aushalten zu können.

Diese emotionalen Fähigkeiten werden  im Studium wenig gelehrt und  auch die klinische Ausbildung ist in  der Regel nur wenig geeignet,umeigene  Gefühle wahrzunehmen und  zu reflektieren. Gute Voraussetzungen  für eigene Lernprozesse liegen  in den formalen Qualifikationsmöglichkeiten,  die im Rahmen der fachärztlichen  Weiterbildung, obligatorischer  Kurse psychosomatischer  Grundversorgung und derWeiterbildung  psychosozialer Onkologie der  Deutschen Krebsgesellschaft angeboten  werden. Diese müssen jedoch  im klinischen Alltag immer wieder  eingeübt werden. Psychologische  Supervision des ärztlichen Teams  wird bisher leider nur in wenigen Kliniken  angeboten, stellt aber eine gute  Möglichkeit zur Reflektion des eigenen  Handels und der Wahrnehmung  der eigenen Gefühle dar.  Auch außerklinische Balint-Gruppen  können hilfreich sein. Mit Fokus auf  die klinische Versorgung mit Besonderheiten  und Zwängen des stationären  Alltags sind jedoch innerhäusliche  Supervisionsangebote sinnvoll.  Unter dem Druck der Sparzwänge  und der ökonomischen Notwendigkeit  zur Fallzahlsteigerung mit möglichst  wenig Personal, ist dies sicher  eine Herausforderung, die den Leitlinien  entspricht. Patientenzentrierte  Kommunikation von ÄrztInnenn  führt zu einer höheren Zufriedenheit  und kann bzw. sollte durch gezieltes  Training erlernt werden; dies fordert  die S3-Leitlinie für Brustkrebs [1]. Im  Erhebungsbogen für Brust- und gynäkologische  Krebszentren wird die  Supervision des Teams durch Psychologen  empfohlen.

Zusammenfassung

Zur psychoonkologischen Versorgung  in Kliniken gehört der standardmäßige  Einsatz von Screening-  Instrumenten zur Frage der psychischen  Belastung von onkologischen  Patientinnen und des Interventionsbedarfes.  Dieser Einsatz ist jedoch  umstritten. Neben objektiven Messwerten  spielen die persönliche Ansprache,  das konkrete Setting und  patientenspezifische Charakteristika  für die Inanspruchnahme von psychoonkologischer  Unterstützung eine  Rolle. Darüber hinaus bleiben  ÄrztInnen die zentralen Ansprechpersonen  im klinischen Alltag. Diese  Interaktionen sind für die emotionale  Situation der Patientinnen nicht zu  unterschätzen. Gelingende Kommunikation  sollte durch empathisches  aktives Zuhören und Fragen,  anstelle von Aktivismus und Ratschlägen,  charakterisiert sein. Den  Gefühlen von Patienten Raum zu geben,  kann – unter Bezugnahme auf  das psychoanalytische Konzept des  Containing – als haltender Beziehungsprozess  verstanden werden,  der den Patienten das Spüren und  Verarbeiten von Schmerz, Trauer  und Verzweiflung erlaubt. Vor dem  Hintergrund der aktiven Haltung als  medizinisch handelnde ÄrztInnen,  erscheint dies manchmal als rein  passives Aushalten, ist jedoch ungleich  mehr und stellt eine andere  Ebene des therapeutischen Handels  dar. Es besteht sowohl die Herausforderung  als auch die Chance darin,  unseren onkologischen Patientinnen  behandelnd und begleitend zur  Seite zu stehen.Umdas ärztliche Potential  voll ausschöpfen zu können,  sind wir auf eigene Lernprozesse  durch Fortbildungen und Supervision  im klinischen Alltag angewiesen.

Slide Gynäkologische Onkologie in der Klinik – Gyne 03/2018 Zwischen Handeln und Halten

Literatur

  1. Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): S3-Leitlinie Früherkennung, Diagnose, Therapie und Nachsorge des Mammakarzinoms Kurzversion 4.0, 2017, AWMF Registernummer: 032–045OL.
  2. Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten, Langversion 1.1, 2014, AWMF-Registernummer: 032/051OL.
  3. Mitchell, Alex J et al. Prevalence of depression, anxiety, and adjustment disorder in oncological, haematological, and palliativecare settings: a meta-analysis of 94 interview- based studies, The Lancet Oncology 2001; Volume 12, Issue 2, 160–174.
  4. Faller H, Schuler, Richard M, Heckl U,Weis J, Küffner R. Effects of Psycho-Oncologic Interventions on Emotional Distress and Quality of Life in Adult Patients With Cancer: Systematic Review and Meta-Analysis Journal of Clinical Oncology 2013 31:6, 782–793.
  5. Salmon P, Clark L, McGrath E, Fisher P. Screening for psychological distress in cancer: renewing the research agenda. Psychooncology. 2015 Mar; 24(3):262–8.
  6. Faller H, Olshausen B, Flentje M. Emotionale Belastung und Unterstützungsbedürfnis bei Mammakarzinompatientinnen zu Beginn der Strahlentherapie. Psychother Psych Med 2003; 53: 229–235.
  7. Faller H,Weis J, Koch U, Brähler E, Härter M, Keller M, Schulz H, Wegscheider K, Boehncke A, Hund B, Reuter K, Richard M, Sehner S, Szalai C,Wittchen HU, Mehnert A. Perceived need for psychosocial support depending on emotional distress and mental comorbidity in men and women with cancer. J Psychosom Res. 2016 Feb; 81:24–30. doi: 10.1016/j.jpsychores. 2015. 12.004. Epub 2015 Dec 15.
  8. Bonacchi A, Rossi A, Bellotti L, Franco S, Toccafondi A, Miccinesi G, Rosselli M. Assessment of psychological distress in cancer patients: a pivotal role for clinical interview. Psychooncology. 2010 Dec;19(12):1294–302.
  9. Zeissig SR, Singer S, Koch L, Blettner M, Volker A. Inanspruchnahme psychoonkologischer Versorgung im Krankenhaus und in Krebsberatungsstellen durch Brust-, Darmund Prostatakrebsüberlebende. Psychother Psychosom Med Psychol. 2015 May; 65(5):177–82.
  10. Weiß E, Stickel A, Speiser D, Keilholz U, Blohmer, J-U, Goerling U. Wer benötigt psychoonkologische Beratung? Eine Untersuchung zu psychischer Belastung, Beratungswunsch und Inanspruchnahme psychoonkologischer Unterstützung bei Patientinnen mit Brustkrebs. Frauenarzt 2017; 58: 196–201.
  11. Volkenandt M. Kommunikation mit Patienten. In: Fegg, M, Gramm J, Pestinger M (Hrsg): Psychologie und Palliative Care, Stuttgart 2012: 79–83.
  12. Pestinger M, Fegg M. Psychologische Unterstützung von Patienten in Palliative Care. In: Fegg, M, Gramm J, Pestinger M (Hrsg): Psychologie und Palliative Care, Stuttgart 2012: 20–23.
  13. Schmermer C, Vyhnalek B. Krisenintervention. In: Fegg, M, Gramm J, Pestinger M (Hrsg): Psychologie und Palliative Care, Stuttgart 2012: 101–106.
  14. Lazar RA. „Container – Contained“ und die helfende Bezieung. In: ErmannM(Hrsg): Die hilfreiche Beziehung in der Psychoanalyse, Göttingen 1993: 68–91.
  15. LeShan, L. Diagnose Krebs. Wendepunkt und Neubeginn, 4. Auflage, Stuttgart 1998.
  16. Melching H. Trauer. In: Fegg, M, Gramm J, PestingerM(Hrsg): Psychologie und Pallia-tive Care, Stuttgart 2012: 84–92.
  17. Maier BO. Organisationskonzepte stationärer Palliativversorgung. In: Fegg, M, Gramm J, PestingerM(Hrsg): Psychologie und Palliative Care, Stuttgart 2012: 214–22

Gyne 02/2018 – „Muss mein Mann auch was nehmen?“ – STI und Sexuelle Gesundheit: eine wichtige Aufgabe für Frauenärztinnen und –ärzte

Gyne 02/2018
„Muss mein Mann auch was nehmen?“ – STI und Sexuelle Gesundheit: eine wichtige Aufgabe für Frauenärztinnen und –ärzte

Autorin: Claudia Schumann

 

Geschlechtskrankheiten“, heute STI: sexuell transmitted infections. Das klingt besser. Aber auch wenn die neue Bezeichnung nicht mehr den etwas anrüchigen Beiklang hat, sind die Erkrankungen eher etwas, das man für sich behält. Wer sagt schon gerne, dass er/sie einen Tripper hat oder eine Lues, sich gar mit HIV angesteckt hat d. h. HIV-positiv ist? Starker Ausfluss führt ebenso wie harmlosere Infektionen im Intimbereich (z.B. Pilz) bei vielen Frauen zu beunruhigenden Phantasien und Fragen: „Woher habe ich das? Habe ich etwas falsch gemacht? Oder hat etwa mein Partner…? Muss der sich auch behandeln? Wie sage ich es ihm?“

Die Scham mag mit der engen Verbindung von Sexualität, das heißt einem sehr intimen Bereich, und der Infektion zusammenhängen. Genauso wenig, wie man offen über sexuelle Probleme spricht, so wenig werden auch Gedanken und Befürchtungen zu Erkrankungen „im Intimbereich“ angesprochen und ausgetauscht.

Das macht es so wichtig, bei STI neben der guten Diagnostik und Therapie auch gut zu kommunizieren und die richtigen Worte zu finden. Ein wesentliches Ziel dabei ist, die Infektionen aus der „Schmuddelecke“ in den Alltag zu bringen. Die Botschaft muss sein: „Man kann über Chlamydien reden wie über eine Erkältung. Beides wird von anderen Infizierten übertragen – Chlamydien über Sex, Grippeviren über das Einatmen – wo ist das Problem?“ STI hat wenig mit mangelnder Hygiene oder mit Promiskuität zu tun: „Man kann sich auch anstecken, wenn man sich täglich duscht; auch ohne HWG (häufig wechselnden Geschlechtsverkehr) kann man betroffen sein.“

Es ist für die ärztliche Praxis wichtig, die Vorbehalte und Vorurteile in Bezug auf STI zu kennen, sie direkt anzusprechen und möglichst zu entkräften. Nur wenn man miteinander offen und vorurteilsfrei über die möglichen Infektionswege sprechen kann, lassen sich auch die nächsten Schritte – Prävention, Symptome, Therapie, Kontrolle, Partnerbehandlung – verständlich machen, und nur so werden sie akzeptiert.

Überblick: Was sind und welche Folgen haben STI?

Unter STI versteht man Infektionen, die „auch oder hauptsächlich durch sexuelle Kontakte übertragen werden können“ [1]. Verursacht werden sie von Bakterien, Viren, Pilzen und Protozoen. Chlamydien und – in geringerem Ausmaß – Gonorrhoe zählen zu den häufigsten bakteriellen STI, während Syphilis/Lues deutlich seltener vorkommt, allerdings mit leicht ansteigender Tendenz in den letzten Jahren. Zu den häufigsten viralen Infektionen gehören HPV-, Herpes genitalis- und Hepatitis-, hierzulande seltener HIV-Infektionen. Die noch vor 20 bis 30 Jahren häufig zu findende Trichomonaden- Infektion, ausgelöst durch das Protozoon Trichomonas gondii, wird derzeit zumindest in Deutschland kaum mehr diagnostiziert. Auch Filzläuse und Krätze können bei intimem Kontakt übertragen werden und lokal unangenehme Beschwerden verursachen. Vaginale Pilzinfektionen und die bakterielle Vaginose werden in der Praxis nur im weitesten Sinne zu den STI gezählt: Sie können zwar auch sexuell übertragen werden, haben aber meist andere Ursachen (z. B. treten sie nach Antibiotika- Einnahme auf).

Die mit STI verbundenen Beschwerden und Erkrankungen können auf sehr unterschiedliche Weise die (sexuelle) Gesundheit beeinträchtigen. Sie können lange ohne jegliche Beschwerden auftreten (z. B. HPV Infektion am Muttermund) oder akute lokale Beschwerden auslösen (vaginale Blutung, Ausfluss, Juckreiz). Manche Infektionen wie Chlamydien und GO können zu gravierenden Erkrankungen führen (bei der Frau vor allem zu aufsteigenden Unterleibsinfektionen, verbunden mit der Gefahr der Sterilität) und unbehandelt das Leben bedrohen (HIV mit der Folge von AIDS, HPV mit der Folge von Gebärmutterhalskrebs).

Die große Breite der möglichen Folgen macht es noch verständlicher, dass Frauen sich oft große Sorgen machen, wenn es „juckt und brennt“: Unabhängig vom Kontext Sex fürchten sie um ihre Gesundheit.

Was versteht man unter „sexueller Gesundheit“ – und wer kümmert sich darum?

Sexuelle Gesundheit ist mehr als die Freiheit von sexuellen Infektionen. Die WHO hat dazu 1975 eine gleichzeitig umfassende und komplizierte Definition geliefert: „Sexuelle Gesundheit ist die Integration der somatischen, emotionalen, intellektuellen und sozialen Aspekte sexuellen Seins auf eine Weise, die positiv bereichert und Persönlichkeit, Kommunikation und Liebe stärkt. Grundlegend für dieses Konzept sind das Recht auf sexuelle Information und das Recht auf Lust.“ Das bedeutet aber auch: Sich im Intimbereich wohl zu fühlen, Sex ohne Schmerz und ohne Angst vor möglicher Erkrankung zu genießen sowie eine gute Untersuchung und ausreichende Behandlung bei Diagnose zu erhalten, sind wichtige Aspekte der sexuellen Gesundheit!

Die STI gehören historisch in den Bereich der Dermato-Venerologie, das entsprechende Facharzt-Gebiet umfasst auch heute noch die „Haut und Geschlechtskrankheiten“. So ist es kein Wunder, dass die Präsidenten der Fachgesellschaft „Deutsche STI-Gesellschaft – Gesellschaft zur Förderung der Sexuellen Gesundheit“ (DSTIG), hervorgegangen aus der 1902 gegründeten „Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ (DGBG), bislang immer Hautärzte waren. Derzeitiger Präsident ist der Bochumer Dermatologe Prof. Norbert Brockmeyer, der sich sehr intensiv für die Thematik und dabei auch für fachübergreifende Kooperation und Fortbildung einsetzt. Ein wichtiges Produkt dieser Arbeit ist der empfehlenswerte Leitfaden STI-Therapie „für die Kitteltasche“, der leider derzeit vergriffen ist, aber bald neu überarbeitet erscheinen soll (persönliche Information DSTIG).

Im Vorstand der DSTIG ist die Gynäkologie nur spärlich vertreten. Dazu passt, dass die STI in der frauenärztlichen Praxis eher ein Stiefkind-Dasein führen, obwohl das Thema „Sexualität“ ebenso wie die genitalen Infektionen eigentlich für Frauenärzte/- innen zentral ist. Die Mehrzahl der Frauen wendet sich bei sexuellen Problemen, gleichermaßen wie bei Unterleibsproblemen, an ihren Frauenarzt/-ärztin. Deshalb ist es so wichtig, dass diese nicht nur bei Pilzinfektionen, sondern auch bei Gonorrhoe Bescheid wissen.

Typische Situationen in der gynäkologischen Praxis

Frauenärzte/-innen betreuen Mädchen und Frauen von der Kindheit an bis ins hohe Alter. Dementsprechend wird wie folgt ein chronologischer Zugang geschildert. Es beginnt mit der HPV-Impfung: Inzwischen ist das empfohlene Alter für die Impfung so weit nach vorne verlegt worden, dass typischerweise die Kinderärzte/-innen die Impfung übernehmen. Dennoch bleibt sie auch in der frauenärztlichen Praxis Thema; oft fragen Mütter, ob ihre Tochter gegen Gebärmutterhalskrebs geimpft werden soll. Hier besteht, ebenso wie in der Mädchen- Sprechstunde, die Chance der sachlichen Aufklärung: Sex macht keinen Krebs! Aber beim Sex kann man sich mit Viren anstecken, die Entzündungen am Muttermund verursachen können. Meist heilt das von alleine wieder aus, aber im Ausnahmefall kann die Infektion zu schweren Zellveränderungen bis hin zum Krebs führen. Ziel eines solchen Gesprächs ist es, Sex nicht zum Krebsrisiko zu stilisieren, die möglichen Risiken dabei aber dennoch nicht zu verharmlosen und vor allem den Gedanken des „aktiven Schutzes“ einzuführen. Inwieweit sehr junge Mädchen tatsächlich informiert entscheiden können, ob sie nach entsprechender Aufklärung der Impfung zustimmen, scheint mir aufgrund meiner praktischen Erfahrung fraglich. Nach aktueller Studienlage überwiegen die positiven Effekte der Impfung die Nebenwirkungen. Im Laufe der Jahre habe ich mir deshalb eine aktive „Pro-Impf“-Beratung angewöhnt und damit bewusst meiner ärztlichen Fürsorge einen höheren Stellenwert zugeordnet als der der Selbstbestimmung [2].

Die HPV-Impfung ist gynäkologisches Standard-Thema geworden, sicher im Zusammenhang mit der Zervixdysplasie und dem Zervixkarzinom. Aber denken wir genug an die Hepatits B-Infektion? Fragen wir jede junge Frau, ob sie ausreichend dagegen geimpft ist? Beachten wir bei der Kontrazeptionsberatung auch gleichrangig die „Kontra- Infektions-Beratung“? Das würde heißen, Sexualität sehr direkt anzusprechen: Nimmt der Freund Kondo me, kann er sie benutzen, weiß er, dass es verschiedene Größen gibt und bei entsprechender Anpassung die Gefahr des Platzens bzw. Abrutschens kleiner wird? Wissen beide, dass sie – wenn nötig – nur wasserlösliches Gleitgel benutzen dürfen, da fettlösliche Präparate das Latexkondom angreifen können? Da männliche Jugendliche sich für den „Kinderarzt“ meist zu erwachsen fühlen und keinen vertrauten „Männerarzt“ haben, werden Frauenärzte/- innen vor eine doppelte Aufgabe gestellt.

So könnten sie manche ihrer Patientinnen vor dem nächsten Thema im Altersverlauf, einer Chlamydien-Infektion, bewahren. „Seit dem 1.1.2008 wird sexuell aktiven Frauen unter 25 Jahren ein Chlamydien- Screening angeboten“, heißt es auf der Internet-Informationsseite des Robert-Koch-Instituts [3]. Der darunter stehende Satz „in Zukunft soll die Inanspruchnahme des Screenings erhöht werden“, weist auf die mangelnde Umsetzung hin: „Hoch gerechnet deckt das Screening für Frauen unter 25 Jahren 11 % der Frauen ab, die zu einer Untersuchung berechtigt sind.“ Die Ergebnisse beruhen auf einer mehrjährigen Evaluationsstudie [4]. Nur jede zehnte junge sexuell-aktive Frau erhält das Screening – das ist aus meiner Sicht gleichzeitig ernüchternd und deprimierend! Denn die hohe Positiv-Rate von 6,0 bis 6,8 % bei Frauen zwischen 15 und 24 Jahren [4] beweist, dass das Screening Sinn macht. Mit der dadurch möglichen Früherkennung ist eine frühe Behandlung zu erreichen, bevor es zur Aszension und entsprechenden Folgeschäden im kleinen Becken kommt. Da davon auszugehen ist, dass Frauenärzten/innen der Sachverhalt bekannt ist, kann es – neben dem nicht wegzudiskutierenden Problem der mangelnden Vergütung – auch am Problem der Kommunikation liegen. Junge Frauen für eine Teilnahme am Screening zu motivieren, heißt wieder: Sex ansprechen und nach Partnern fragen. Noch komplexer ist das Gespräch bei einem positiven Test. Es geht dabei nicht nur um die Dauer der Antibiotika- Behandlung, sondern vor allem um das empathische Eingehen auf die Sorgen: „Von wem habe ich das?“ und „Kann ich jetzt keine Kinder mehr bekommen?“ Die zwingend notwendige Behandlung des Partners muss erörtert werden, vielleicht auch die des Expartners, damit er nicht weitere Partnerinnen ansteckt. Das ist vielen äußerst unangenehm. Bis zur nächsten Kontrolle – frühestens vier Wochen nach Therapieende, damit das Ergebnis nicht falsch-positiv ausfällt – darf Sex nur geschützt mit Kondomen stattfinden.

Je nach (Risiko-)Situation ist bei einem positiven Chlamydien-Nachweis zu überlegen, ob eine Gonorrhoe- Diagnostik (AWMF Leitlinie Gonorrhoe) angeschlossen werden soll, die aus derselben Urinprobe möglich ist. Ein Anlass dafür kann auch der (manchmal gedruckste) Bericht über einen intensiven „Urlaubsflirt in Afrika“ sein, zumal wenn es danach zu vermehrtem Ausfluss kam, oder der ungeschützte „Sex mit dem Ex“. Das können schwierige Erörterungen sein, die neben der erforderlichen Zeit vor allem eine kompetente Kommunikation mit Feingefühl verlangen. Eine evtl. weitere Diagnostik (Abstrich, Kultur) und die ausreichende Therapie (incl. Partner!) benötigen aktualisiertes Wissen, evtl. in Kooperation mit anderen Fachgebieten. In diesen Situationen sollte auch eine qualifizierte HIV-Beratung erfolgen (Zeitrahmen des Nachweises bzw. Ausschlusses, Infektiosität etc.). Wer da unsicher ist, sollte an das Gesundheitsamt verweisen; dort können die Untersuchungen bei entsprechender Indikation auch anonym und kostenfrei durchgeführt werden.

Das nächstes Thema ist der HPV-Abstrich. Er wird bei jüngeren Frauen (< 30 J.) mit unauffälligem Pap- Abstrich primär nicht empfohlen. Der Grund dafür ist, dass viele in dieser Altersgruppe infiziert sind, aber die Infektion überwiegend unbemerkt wieder ausheilt, d. h. die mit einem positiven HPV-Abstrich verbundene Beunruhigung ist zumeist völlig unnötig. Das Wissen, die regelmäßigen Abstrichkontrollen und das Warten auf eine Abheilung können sehr belasten [5]. Besonders schwierig fand ich immer die Beratungssituation, die entsteht, wenn eine Frau in fester Partnerschaft zunächst HPV-negativ ist und bei einer Kontrolle, z.B. aufgrund eines auffälligen Pap-Abstrichs, plötzlich HPViren nachgewiesen werden. Die Frage lautet in dem Fall immer: „Woher habe ich das?“. Die Antwort: „Weil HP-Viren unsichtbar in Haut und Schleimhautzellen im gesamten Genitalbereich sitzen können, kann man sich bei jedem intimen Hautkontakt anstecken, nicht nur beim Geschlechtsverkehr. Eine Ansteckung über Körperflüssigkeiten wie Sperma, Blut oder Speichel gilt als unwahrscheinlich“ [6]. Der eindeutige Zusammenhang zwischen HPV-Infektion und intimen körperlichen Kontakt lässt sich in der Beratung nicht weg reden, denn jede/jeder kann es im Netz nachlesen. Das bedeutet: Zusätzlich zur Beunruhigung über die Folgen der Infektion kommt ein Verdacht auf „Seitensprung“ auf, was eine entsprechende Belastung für die Beziehung bedeutet. Auch darauf sollte man in der Beratung reagieren und eingehen können.

Das Thema HIV wird meist kurz bei der Verhütungsberatung gestreift, verbunden mit der Information, dass Kondome davor schützen. Das ist vor allem dank der BZgA-Kampagnen zum Glück weithin bekannt. Erneut muss HIV bei der Betreuung in der Frühschwangerschaft thematisiert werden. Nach heutigem Wissensstand und gemäß der Mutterschaftsrichtlinie, sollte allen Schwangeren und nicht nur Frauen aus Risiko-Gruppen der HIV-Test empfohlen werden, auch wenn das oft Staunen bis hin zur Abwehr – „brauche ich nicht“ – hervorruft. Der Hintergrund ist, dass es Frauen gibt, die sich unwissentlich infiziert haben und damit ihr Kind gefährden. Völlig nebenbei läuft der Bluttest auf Lues, das wird als Relikt akzeptiert. Ein einziges Mal habe ich erlebt, dass er positiv ausfiel. Dann erfuhr ich von der erschrockenen Frau, dass da „früher mal was war, das behandelt wurde“. Der Befund stellt sich als sogenannte Seronarbe heraus. Die Patientin hatte die Erkrankung fast vergessen, ahnte nicht, dass sie noch erkennbar war, und schämte sich zunächst. Ihr neuer Partner nahm es jedoch nach entsprechender Beratung gelassen auf.

Viel häufiger als die geschilderten STI und gleichzeitig aus medizinischer Sicht viel „banaler“, sind übliche Scheidenentzündungen, Soor und bakterielle Vaginose. Sie führen zwar zu Beschwerden, verursachen aber langfristig keine schwerwiegenden Erkrankungen. Das ist wichtig zu betonen, da sich manche Frauen diesbezüglich Sorgen machen. Nur in der Schwangerschaft vermutet man einen Zusammenhang zwischen der Vaginose, der damit verbundenen pH-Veränderung im Scheidenmilieu, und aufsteigenden Entzündungen, welche für Frühgeburten (mit)verantwortlich gemacht werden. Entgegen früheren Usancen hilft die entsprechende Partnerbehandlung nicht gegen ein Infektions- Rezidiv der Frau. Das bedeutet umgekehrt: Eine Behandlung des Mannes erfolgt nur bei Beschwerden, z. B. einem juckendem Ausschlag auf dem Penis, der auf eine Soor-Balanitis hinweist. Die lästigen Rezidive haben etwas mit der Abwehrsituation der Frau zu tun und erfordern oft eine lange Behandlung, was für Patientin und Ärztin sehr zermürbend sein kann. In einigen Fällen ist die Infektion auch plötzlich verschwunden und gelegentlich mit einer Bemerkung verbunden, wie: „Nach der Trennung von meinem Ex ist alles viel besser und mir geht es richtig gut; mit meinem neuen Freund tut der Sex nicht mehr weh.“

Was steht für Frauenärzte/-innen in der Praxis an?

Vorrangig: Das Chlamydien-Screening ernst nehmen! Jede Frau unter 25 Jahren, die sexuell aktiv ist, hat ein Recht auf das jährliche Angebot zum Chlamydien-Screening. Damit sich die Teilnahmerate erhöht, müssen wir Ärztinnen und Ärzte dies ansprechen, organisatorisch umsetzen und empfehlen, denn Mädchen und Frauen kommen mit dieser Thematik nicht unbedingt aktiv auf uns zu. Dabei nimmt uns der offizielle Informations- Flyer des G-BA viel Aufklärungsarbeit ab. Die MFA können ihn, mit der Bitte ihn im Wartebereich zu lesen, übergeben. Zudem können sie aufklären, warum es wichtig ist, den „Erststrahlurin“ abzugeben und warum die Blase mindestens zwei Stunden vorher nicht entleert worden sein darf. Die Keime sitzen in den Zellen der Urethra und sind somit in den ersten Millilitern des Urins zu finden. Dann bleibt für uns Ärzte/- innen (nur) die Beratung über die Infektion selbst und bei positivem Befund natürlich die Therapie incl. des Hinweises, dass der Partner obligat mitbehandelt werden muss. Dieses Umsetzen des Screenings sind wir den jungen Frauen schuldig! Die Beratung über STI kann gut in die Kontrazeptionsberatung integriert werden, incl. der Überprüfung des Impfstatus und eventuell benötigter Impfungen.

Die Hepatitis-B-Impfung ist eine Standard-Impfung für Kinder und Jugendliche. Außerdem gilt sie als Indikations-Impfung für Erwachsene mit hoher Infektionsgefährdung (z. B. alle medizinischen Berufsgruppen). „Dazu zählen auch sexuelle Risiken wie wechselnde Sexualpartner/- innen“ [1], das heißt, wir sollten entsprechende Frauen wie Sexarbeiterinnen auf die Möglichkeit der Impfung ansprechen. Die Hepatitis- A-Impfung gilt ebenfalls als Indikationsimpfung, u. a. „für Personen, die ein Sexualverhalten mit hoher Infektionsgefährdung (prinzipiell bei oral-analen Kontakten)“ haben [1].

Die HPV-Impfung ist anscheinend gut geregelt; das gilt in Zukunft auch für den HPV-Abstrich als Standard- Kassenleistung [5]. Das Angebot als IGeL-Leistung sollte gut überlegt sein, um nicht unnötige Ängste zu wecken.

An Gonorrhoe und Syphilis müssen manche Frauenärzte/-innen bei entsprechender Anamnese und Symptomatik sicher mehr denken. Hier spreche ich aus eigener Erfahrung, da ich das im Praxisalltag früher eher vernachlässigt habe. Als wir das Thema STI im Qualitäts-Zirkel besprachen, hörte ich es auch von meinen Kolleginnen. Die DGPFG setzt sich auch aus diesem Grund im Rahmen der „Aktion Roter Stöckelschuh“ [7] dafür ein, dass Sexarbeiterinnen in gynäkologischen Praxen willkommen sind und fundiert zu STI beraten und behandelt werden. Dafür braucht es die Bereitschaft und das Wissen!

STI und Psychosomatik

Die Nähe zum Sex macht die STI für die meisten Menschen zu etwas Besonderem. Nicht umsonst sprach man früher von „Lustseuche“ und meinte damit zumeist Syphilis, manchmal auch Gonorrhoe. „Tripper“, die umgangssprachliche Bezeichnung für Gonorrhoe, hat einen abwertenden Beiklang. AIDS galt lange als typische Erkrankung von Drogenabhängigen und promisken Homosexuellen. Erkrankte hatten mit Schuldvorwürfen und Diskriminierung zu rechnen. Das will man/frau alles nicht haben, darüber will niemand reden!

Um Erkrankungen im „Intimbereich“ adäquat zu behandeln, bedarf es entsprechend nicht nur des medizinischen Wissens über die Erreger, Symptome, Diagnostik und Therapie. Man muss von ärztlicher Seite darüber sprechen können, die richtigen Worte finden und vor allem den Mut zum Gespräch haben, zur bio-psycho-sozialen Anamnese, einem Grundstein der psychosomatischen Herangehensweise. Das kann je nach Situation unterschiedlich intensiv sein, Fragen wie „Ist Sex (schon) ein Thema?“, „Wann tut was weh, seit wann besteht der lästige Ausfluss?“, „Welche Sexualpraktiken gibt es, wie sieht die Beziehung aus?“ ,“Gab es eine Urlaubs-Affäre oder einen Seitensprung?“, „Wie leben Partner/Partnerin, gab es Gewalt oder Drogen?“, gehören dazu. Natürlich müssen die Fragen mit der Patientin abgesprochen werden: „Ich habe den Eindruck/den Verdacht, dass …“, „Möchten Sie darüber reden? Darf ich Sie fragen?“. Dafür ist eine wertschätzende urteilsfreie Atmosphäre die notwendige Bedingung, in der die Frau/das Mädchen weiß: „Ich kann Fragen stellen, ich kann antworten, aber auch schweigen oder später wiederkommen. Es geht um meine Gesundheit, für die bin ich zuständig.“ Nur wenn Mädchen und Frauen sich an- und ernst genommen fühlen und Vertrauen haben, sind sie offen für Vorschläge zur Prävention, Diagnostik und Therapie. Wenn nötig sind sie dann auch zu einem Gespräch mit dem Partner/der Partnerin und eventuell auch dem/der “Ex“ bereit. „Sexuelle Gesundheit“ ist eine wichtige Aufgabe und Herausforderung, der sich Frauenärzte/-innen noch bewusster stellen können.

Slide „Muss mein Mann auch was nehmen?“ Gyne 02/2018 STI und Sexuelle Gesundheit: eine wichtige Aufgabe für Frauenärztinnen und -ärzte

Literatur

  1. DSTIG (2014): Leitfaden STI-Therapie, 2.Auflage 2014/2015; s. www.dstig.de.
  2. Schumann, Claudia (2017): Frauenheilkunde mit Leib und Seele – Aus der Praxis einer psychosomatischen Frauenärztin; Psychosozial-Verlag Gießen.
  3. RKI (Robert-Koch-Institut): www.rki.de/ DE/ Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/Ratgeber_ Chlamydiosen_Teil1.html AWMF Registernummer 059 – 004 (2013, in Überarbeitung): Leitlinie Gonorrhoe bei Erwachsenen und Adoleszenten, S2k-Leitlinie.
  4. Bremer V. et al (2013): Begleitevaluation zum Chlamydien-Screening in Deutschland – Endbericht Chlamydia trachomatis – Laborsentinel.
  5. Kuhlmann-Wesseling, Mechtild (2017): Bad News- Auffälliger Pap-Abstrich; in Gyne 06/2017.
  6. gesundheitsinformation.de (2017): www.gesundheitsinformation.de/humanepapillomviren-hpv.
  7. DGPFG-Presseinformation (2017): Aktion Roter Stöckelschuh startet, in Gyne 2/2007

und auf www.dgpfg-info.de

Artikel des Monats August 2018

Artikel des Monats August 2018

vorgestellt von Prof. Dr. med. Matthias David

Julia Kreis, Sebastian Grümer

Evidenzbasierung in der Psychotherapie.

Berliner Ärzte 2018 (8), 32-33

Kreis und Grümer widmen sich in ihrem kurzen Überblicksartikel im Auftrag des Deutschen Netzwerkes Evidenzbasierte Medizin e.V. (DNEbM- www.ebm-netzwerk.de) einem wichtigen, wenngleich schwierigen Thema, denn es erscheint doch bedeutend einfacher, Effekte biomedizinischer Heilmaßnahmen zu erfassen, als Effekte einer psychotherapeutischen Intervention auf das innere Erleben von Menschen.

Wenig bekannt ist, dass es in der Psychotherapie eine lagen Tradition der Evaluationsforschung gibt. Das zeigt u.a. die wenige bekannte Tatsachen, dass der Begriff „Metaanalsye“ in den 1970er Jahren von einem Psychologen geprägt wurde, der mit seinen Mitarbeiten auch eine erste solche Auswertung von mehreren hundert kontrollierten Studien zum Effekt von Psychotherapie publiziert hat.

Kreist und Grümer führen als Beispiel für die Wichtigkeit der steten Überprüfung psychotherapeutischer Interventionen das sog. Debriefing an, das nach traumatischen Ereignissen dazu diesen soll, den posttraumatischen Stress zu reduzieren und eine posttraumatsiche Belastungsstörung (PTSD) zu verhindern. Ein Cochrane Review hat unterdessen schon 2002 gezeigt, dass es keinerlei Vorteile des „Debriefing“ gegenüber dem Nichtstun gibt, teilweise komme es durch die Maßnahme sogar zu einer PTSD-Risikoerhöhung.

Die beiden Autoren merken kritisch an, dass trotz solcher Beispiele die Erfassung unerwünschter Ereignisse und Nebenwirkungen psychotherapeutischer Interventionen bisher in der (psychotherapeutischen) Literatur kaum eine Rolle spielt. Kreis und Grümer konstatieren, dass eine Verblindung bei Psychotherapiestudien nicht machbar ist; möglich sei aber die randomisierte Zuordnung zu therapeutisch unterschiedliche behandelten Vergleichsgruppen. Die Erfolgsbeurteilung kann dann, quasi als Verblindungsersatz, von Personen vorgenommen werden, die die Gruppenzuordnung der Patientinnen und Patienten nicht kennen.

Die Autoren verweisen darauf, dass ungeachtet mancher kritischer Stimmen psychotherapeutische Verfahren vor einer Aufnahme in die GKV-Versorgung einer vergleichbar strengen Prüfung anhand der Kriterien der evidenzbasierten Medizin unterzogen werden wie andere ärztliche Interventionen. Eine Sonderstellung nehmen nur die beiden psychoanalytisch begründeten Verfahren Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, Analytische Psychotherapie sowie die Verhaltenstherapie ein, die in die Versorgung gelangten, bevor die EbM-basierten Prüfkriterien eingeführt wurden. Für diese Verfahren laufen nachträgliche Prüfungen. Allerdings hat das Bundessozialgericht beschlossen, dass ein nachträglicher Ausschluss dieser drei Verfahren nicht zulässig ist.

(M. David)

Prof. Dr. med. Matthias David

Gyne 01/2018 – Erfahrungsbericht: Gedanken & Anregungen für den Schritt in die Niederlassung

Gyne 01/2018
Erfahrungsbericht: Gedanken&Anregungen für den Schritt in die Niederlassung
Frauenheilkunde in der Praxis: mehr als „Pille, Pap und Pilze“!

Autorin: Claudia Schumann

 

Irgendwann stellt sich für Ärztinnen und Ärzte die Frage: Wie weiter?

Für manche wird es schon früh während der klinischen Weiterbildung eindeutig: Frauenheilkunde bedeutet für sie vorrangig Operieren, Geburtshilfe, Forschung und Lehre, oder alles zusammen – sie bleiben in der Klinik und setzen ihre Schwerpunkte auf bekanntes Terrain.

Andere fühlen sich in der Klinik auf Dauer nicht am richtigen Ort. Welche Alternative gibt es für die, die sich langfristig weder im OP, Kreißsaal, noch in der Forschung sehen, oder für diejenigen, welche bestehende Klinikstrukturen hinterfragen und gerne auf Nacht- und Wochenenddienste über viele weitere Jahre verzichten möchten? Für die, die sich unter frauenärztlicher Tätigkeit etwas anderes vorgestellt haben?

Im deutschen Gesundheitssystem gibt es eine Alternative, die gleichzeitig einen radikalen Schnitt bedeutet: Raus aus der Klinik, rein in die Praxis. (Mit den Alternativen: Praxis-Übernahme, Eintritt in eine bestehende Praxis in Form einer Gemeinschaftspraxis bzw. Praxisgemeinschaft, Existenzgründung, oder Anstellung in einem MVZ. Eine weitere „vorsichtige“ Variante wäre: Belegarzt/-ärztin, d.h. mit einem Bein in der Klinik bleiben, mit dem anderen in einer Praxis Fuß fassen.)

Der Schritt in die Niederlassung ist fast immer endgültig! Aber was erwartet ÄrztInnen „draußen“? Und noch wichtiger: Wie kann man sich vorbereiten, worauf sollte man achten? Im Folgenden soll es nicht um ein komprimiertes „Niederlassungs- Seminar“ gehen, sondern um die Weitergabe von ausgewählten Erfahrungen.

Andere medizinische Schwerpunkte

Wenn man von der Klinik in die Praxis wechselt, gibt es Veränderungen in ganz unterschiedlichen Bereichen: dem Themenschwerpunkt an sich, der Interaktion mit den Patientinnen und zusätzlich der eigenen beruflichen Rolle. Auf dem medizinischen Gebiet liegt es auf der Hand. Plakativ gesagt: „Reden statt operieren“. Oder etwas konkreter: Schwangeren- Betreuung statt Entbindung, Krebs-Nachsorge statt Krebs-Therapie. Dazu kommen neue Themen, die in der Klinik keine wesentliche Rolle spielen, wie Kontrazeption, Krebs-Früherkennung, Wechseljahre, Pränataldiagnostik, Fluor-Diagnostik und Behandlung. Das ist mehr als „Pille, Pap und Pilze“, wie ich die Praxis-Tätigkeit vor Jahren einmal ironisch beschrieben fand. Es sind umfängliche Themengebiete, die man sich erarbeiten muss. Darauf soll aber hier der Schwerpunkt nicht liegen.

Andere Begegnungen

Mein Fokus liegt stärker auf der Veränderung der Begegnung mit den Patientinnen, zumal auf diesen Aspekt meist weniger geachtet wird. Zugespitzt könnte man es benennen: „Kontinuität versus Stippvisite“. In die Klinik kommen die meisten Patientinnen, weil sie operiert werden sollen, gelegentlich weil sie eine aufwändige Differentialdiagnostik oder eine Chemotherapie brauchen. Schwangere kommen bei schweren Komplikationen, die ambulant nicht zu beherrschen sind, oder sie kommen zur Geburt. Es sind überwiegend kurze Kontakte in einer Ausnahmesituation. Im Gegensatz zu meiner Klinikzeit in den 70er Jahren, wo „eine Abrasio“ bis zu einerWoche (!) stationär lag und Frauen nach Gebärmutter-Entfernung routinemäßig mindestens 10–14 Tage im Krankenhaus betreut wurden, beschränken sich heute die Begegnungen meist auf wenige konzentrierte Situationen: Aufnahmegespräch und -untersuchung, OP-Aufklärung, Entlassungsuntersuchung. Das ist für beide Seiten anstrengend; oft bleiben sich ÄrztInnen und PatientInnen fremd.

In der Praxis sind die Kontakte auch kurz, aber sie wiederholen sich. Man lernt die Frauen kennen bei Verhütungsberatung, Kinderwunsch, Krebs-Früherkennung, in der Schwangerschaft und in den Wechseljahren. Wenn der Kontakt gut ist, begleitet man Frauen in vielen sehr unterschiedlichen Lebensphasen, man wird miteinander vertraut. Das kann sehr befriedigend sein. „Neuer Zahnarzt und neue Frauenärztin – das ist das Schwierigste, wenn man umzieht“, höre ich oft. Es sind – im Gegensatz zur Klinik oft „unaufregende“ Begegnungen, zumindest aus ärztlicher Sicht, aber sie sind für die Frauen sehr wichtig. Dabei geht es um einfühlsame Untersuchung, um Beratung, um Klärung bei Problemen und Ängsten, um Bestätigung und um die Stärkung der eigenen Kompetenz. Dafür sind Empathie und die Fähigkeit zur guten Gesprächsführung erforderlich.

Noch wichtiger ist das bei psychosomatischen Beschwerdebildern. Es ist hinlänglich bekannt und ich fand es auch in meiner Praxis bestätigt, dass ein großer Anteil der Patientinnen wegen somatoformer Beschwerden die ärztliche Praxis aufsuchen. Damit sind unterschiedliche Krankheitsbilder gemeint, die sich in Schwere und Dauer nicht hinlänglich allein durch körperliche Befunde erklären lassen. Ein typisches Beispiel ist der chronische Unterleibsschmerz, mit einer Prävalenz von 10–15 % (LL Chronischer Unterbauchschmerz), der laut in dieser Leitlinie zitierten US-amerikanischen Studien für „ca.10%aller gynäkologischen Konsultationen“ verantwortlich ist. Gerade bei chronischen Beschwerden, ebenso wie bei dem Umgang mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung, ist die Reflektion der ärztlichen Rolle wichtig. Es geht immer wiederumden gezielten Aufbau einer professionellen Beziehung, gerade bei den sogenannten „schwierigen“ Patientinnen. Die Frauen brauchen eine verlässliche Anlaufstelle, um mit den Beschwerden, den Ängsten oder auch den Ansprüchen einer langfristigen Behandlung zurecht zu kommen. Sie müssen sich ernst-genommen fühlen. Dafür ist neben dem medizinischen Fachwissen eine hohe Kommunikationskompetenz erforderlich.

Andere Berufsrolle

Unabhängig vom veränderten Anspruch an medizinischesWissen und kommunikative Kompetenz ist der Schritt in die Praxis mit einer weiteren wesentlichen Änderung verbunden, die manche ÄrztInnen in ihren Auswirkungen nicht bedenken: In der Praxis arbeitet man selbstständig, man ist nicht mehr angestellt. Das heißt: Man ist plötzlich Chef/Chefin oder zumindest Mitglied im Leitungsteam. Damit ergeben sich ganz neue Anforderungen: Man ist neben der eigentlichen ärztlichen Tätigkeit auch verantwortlich für die Wirtschaftlichkeit des Betriebs, für die Zusammenarbeit im Team, für medizinfremde Bereiche wie Dokumentation, Arbeitsschutz und Beschwerdemanagement. Von der Leitung ist das Betriebsklima abhängig, die Wirkung nach außen – und letztlich die Akzeptanz: Kommen die Patientinnen, hat die Praxis einen guten Ruf und der Laden „läuft“.

Passt die Praxis? Was fehlt? Was ist zu tun?

Am wichtigsten ist es nach meiner Erfahrung, sich vor der endgültigen Entscheidung ein Bild zu machen: Wie sieht der Arbeitsplatz „Praxis“ aus? Das geht am besten über eine Hospitation. Nach ein bis zwei Wochen wird man sicherer sein: Ist das etwas für mich, will ich in so einem Konzept die nächsten 25–30 Jahre tätig sein?

Anscheinend ist dieser Schritt erstaunlich unüblich: Obwohl ich es in meiner Umgebung immer wieder angeboten habe, kamen nur ganz vereinzelt Ärztinnen mit diesem Anliegen auf mich zu. Meine spätere Nachfolgerin berichtete im Gegenzug, sie habe verschiedene Praxen bezüglich einer Visitation angefragt, sei aber immer abgewiesen worden. Anscheinend gibt es da von beiden Seiten Reserven– obwohl beide davon profitieren können: Die KlinikärztInnen sehen die Vielfalt und die Ansprüche der Praxis und haben später dann mehr Verständnis dafür, selbst wenn sie in der Klinik bleiben – und die Niedergelassenen verstärken den Kontakt zur Klinik und profitieren dabei vom neuen Wissen, z. B. über neue OP-Methoden.

Zusätzlich zur Grundinformation, ob diese Art Tätigkeit Freude macht, gewinnt man durch eine Hospitation einen Einblick in die Wissens-Lücken, sei es auf dem Gebiet der Endokrinologie, der Impfberatung oder der Mutterschaftsvorsorge. Wenn sich herausstellt, dass die psychosomatische Grundausbildung nicht genug Sicherheit gibt, kann der Eintritt in eine Balintgruppe sehr hilfreich sein.

Ist die Entscheidung grundsätzlich gefallen, bleibt noch viel zu tun: Übernahme oder Einstieg? Kosten? Bankkredit? Formale Voraussetzungen für die kassenärztliche Zulassung erfüllt? Qualifikation für die Erbringung von Spezialleistungen (z. B. Brust-US, Pränataldiagnostik) belegbar? Dafür gibt es gute Beratungen bei den lokalen kassenärztlichen Vereinigungen, die man unentgeltlich nutzen kann und sollte.

Tipps für den Einstieg und den Praxis-Alltag

Meist bedeutet Niederlassung eine Praxis-Übernahme oder Einstieg in eine laufende Praxis, da es kaum „freie“ Kassensitze gibt. Mein wichtigster Tipp für den Anfang: Wenig ändern!

Die Patientinnen müssen den Arztwechsel verdauen, müssen entscheiden, ob sie ihr Vertrauen auf den Neuen/ die Neue übertragen können. Wenn dann auch noch neue Möbel, Farben und Bilder die Atmosphäre verändern und am Tresen eine neue Arzthelferin sitzt, fühlen sich viele eher unwohl. Ändern kann man später; das hat außerdem den Vorteil, dass man nach einiger Zeit selbst besser weiß, was man tatsächlich braucht, und auch wieviel Geld man wofür investieren will und kann!

Das Nicht-Ändern gilt besonders für die MitarbeiterInnen. Sie sind nicht nur das Aushängeschild der Praxis, sondern oft auch die Vertrauten der PatientInnen. Sie wissen Bescheid über die familiären Belastungen und können die Dringlichkeit mancher Anliegen adäquat einschätzen. Lernen vom Team ist daher die nächste Empfehlung, am besten auf der Grundlage von regelmäßigen Teamsitzungen.

In diesen Sitzungen kann man auch gemeinsam erörtern: Was läuft nicht so gut, was sollte vorrangig verbessert werden? Die Terminplanung incl. Vermeidung von übermäßigen Wartezeiten brennt in vielen Praxen am meisten auf den Nägeln; weitere wichtige Anfangsthemen sind die Dokumentation, die praxisinterne Kommunikation und die Strukturierung der häufigsten Abläufe.

Dafür lohnt es, sich mit den Grundzügen von Qualitätsmanagement anzufreunden. Hier gibt es diverse nutzerfreundliche QM-Systeme auf dem Markt, wie das QEP© (Qualität und Entwicklung in der Praxis), welches von Ärzten für Ärzte entwickelt, kontinuierlich überarbeitet wird und die tägliche Arbeit vereinfachen kann.

Manche Frage überrascht oder macht unsicher. Das darf eine Ratsuchende wissen. „Ich habe von der Yamswurzel gehört nach der Sie fragen, aber mich damit noch nicht so viel beschäftigt und kann Ihnen daher nicht sicher sagen, ob das für Sie wirklich sinnvoll ist. Aber ich kümmere mich gerne darum und dann besprechen wir das beim nächsten Mal“ – halte ich für sinnvoller, als mit Pseudowissen aufzutrumpfen. Nach meiner Erfahrung schätzen Patientinnen diese Ehrlichkeit und dazu die Bereitschaft, sich um ihr Anliegen wirklich ernsthaft zu kümmern. Das gilt auch für andere Bereiche: „Ich beschäftige mich nicht mit Homöopathie; aber ich kann Ihnen gerne eine Kollegin nennen, die das wirklich von Grund auf gelernt hat“ – ist besser, als wahllos Kügelchen zu verteilen für den Anschein der Rundum- Kompetenz. Dafür braucht es ein Wissens-Netzwerk im gesamten ge- sundheitlichen Versorgungsbereich: Welche Praxis hat sich spezialisiert auf Naturheilverfahren/Lymphdrainage/ Beckenbodentraining/Varizenbehandlung/ genetische Beratung/ Schwangerschaftsdiabetes/Psychoonkologie/ Sexualtherapie/usw.? Dafür und für viele andere alltägliche Praxis-Fragen (Abrechnung, Labor- Kooperation) ist die Einbindung in einen lokalen Qualitätszirkel sehr hilfreich. Das Gespräch im vertrauten KollegInnen-Kreis, auch über eigene schwierige Fälle, kann gerade am Anfang eine gute Unterstützung bieten. Praxis ist Neuland Je klarer man sich macht, wie viel Neues auf den unterschiedlichen Bereichen auf einen zukommt, desto besser ist es. Neugierde ist hilfreich! Die frühe Klärung, ob man diese Art von ärztlicher Tätigkeit will – eine Kombination aus breitem gynäkologischem Allround-Wissen und Kompetenz bzw. Freude an psychosomatischer Kommunikation, verbunden mit der Bereitschaft zur Führung eines kleinen wirtschaftlichen Betriebs, kann entscheidend dazu beitragen, ob der Schritt in die Praxis auch noch nach Jahren als der Richtige bejaht wird.

Slide Erfahrungsbericht:: Gyne 01/2018 Gedanken&Anregungen für den Schritt in die Niederlassung

Literatur

Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (2015): Chronischer Unterbauchschmerz der Frau, AWMF- Registernummer 016 – 001 Schumann, Claudia (2017): Frauenheilkunde
mit Leib und Seele – Aus der Praxis einer psychosomatischen Frauenärztin; psychosychosozial Verlag Gießen

Artikel eines Beiratsmitgliedes August 2018

Artikel eines Beiratsmitgliedes – August 2018

Begleitung von Frauen und Paaren nach Spätabbrüchen:
Wie können Schuld, Scham und erfahrene Stigmatisierung verarbeitet und die Entscheidung zu einem späten Abbruch der Schwangerschaft in das Selbstbild integriert werden?
Was hilft den Frauen und Paaren?

Annekathrin Bergner
Psychologische Psychotherapeutin

Auszug aus einem Vortrag im Rahmen eines Workshops der DGPFG-Jahrestagung 2018

Für schwangere Frauen ist es oft ein Schock, bei fortgeschrittener Schwangerschaft mitgeteilt zu bekommen, dass ihr ungeborenes Kind sich nicht normal entwickelt oder größere Auffälligkeiten zeigt, die auf eine Erkrankung oder Behinderung hinweisen. Nach Paragraph 218a ist ein Schwangerschaftsabbruch auch jenseits der 12. Schwangerschaftswoche möglich, wenn zu befürchten ist, dass die zu erwartenden Belastungen, die mit der Erkrankung oder Behinderung des Kindes einhergehen, die zukünftige Gesundheit der Mutter ernsthaft gefährden könnten. Die Entscheidung über das Fortsetzen oder die Beendigung der Schwangerschaft treffen die werdenden Eltern. Frauen, die in den Wochen nach dem Abbruch in die Beratung bzw. Psychotherapie kommen, befinden sich i.d.R. in einer schweren emotionalen Krise und zeigen ähnlich intensive Trauerreaktionen wie Frauen nach spontanen perinatalen Verlusten wie Totgeburten oder Spätaborten. Etwa jede fünfte bis dritte Frau zeigt in den Wochen und Monaten nach dem Abbruch Symptome von depressiven oder Angsterkrankungen bzw. Traumafolgestörungen. Schuld- und Schamgefühle sowie erfahrene soziale Stigmatisierung spielen im Trauerprozess und in der therapeutischen Begleitung der Frauen und Paare eine große Rolle.

Noch während der Schwangerschaft nach Mitteilung der Diagnose mussten die betroffenen Frauen bzw. Paare in relativ kurzer Zeit und in einem Zustand höchster emotionaler Durchlässigkeit, Verletzlichkeit und Sensitivität eine weitreichende Entscheidung fällen. Eine Entscheidung, die auch nach dem Abbruch häufig noch mit einer großen inneren Ambivalenz verbunden ist, besonders bei den Frauen, deren Kind nach der Geburt mit großer Wahrscheinlichkeit lebensfähig gewesen wäre. Aktiv an der Entscheidung zum Abbruch der Schwangerschaft beteiligt zu sein, steht häufig in Konflikt mit eigenen inneren Werten und Überzeugungen und erzeugt z.T. massive Schuld- und Schamgefühle. Diese Eltern haben etwas Unaussprechliches erlebt (z.B. einen Fetozid, die Tötung des Feten im Mutterleib), was sie zur Geheimhaltung veranlasst und zu einer Entfremdung von ihrer Umgebung führt. Sie nehmen eine Verurteilung ihrer Umwelt vorweg. Ein sozialer Rückzug des Paares dient nicht selten dem Selbstschutz, verhindert aber eine emotionale Entlastung über den Kontakt mit Nahestehenden und lässt die Paare in sozialer Isolation und Einsamkeit. In seltenen Fällen und v.a. bei Frauen mit einem sehr strengen, rigiden Gewissen, ist es den Frauen nicht mehr erlaubt, ein Leben ohne Qualen zu leben. Ihr seelisches und körperliches Leid entlastet sie von ihrer Schuld, sogenannte negative therapeutische Reaktionen (keine Besserung auf Symptomebene trotz therapeutischer Fortschritte) können die Folge sein. Frauen , die sich als passives Opfer eines Schwangerschaftsverlustes erleben, können ihrer Trauer stärker Ausdruck verleihen und klagen über weniger Schuldgefühle als Frauen, die sich mit ihrer Entscheidung bewusst für den Tod ihres Kindes verantwortlich sehen (Maguire et al., 2015). Starke Schuldgefühle verbunden mit anhaltendem Grübeln und Selbstanklagen erschweren eine emotionale Verarbeitung (Nazaré et al., 2012) und führen zu ausgeprägteren Traumafolgestörungen (McCoyd, 2008) bzw. verkomplizieren den Trauerprozess (Hanschmidt et al., 2017).

Solche Dynamiken von Schuld und Scham müssen in der Begleitung der Frauen rechtzeitig erkannt und therapeutisch aufgegriffen werden. Als Psychotherapeuten oder Berater versuchen wir, gemeinsam mit der Frau bzw. dem Paar die ganze Geschichte ihrer Entscheidung und ihres zu verstehen, so dass ein sinnvolles Narrativ des Verlustes entstehen kann. Das einfühlsame Spiegeln des Geschehenen durch den Therapeuten bringt Struktur in den inneren emotionalen Strudel der Frauen und gibt ihrem traumatischen Erleben vieler Aspekte des Abbruchs eine Bedeutung und Berechtigung. Letzteres ist ein zentrales Element, um eine Traumafolgesymptomatik aufzulösen (Neimeyer, 2000). Indem Verzweiflung und Scham der Frauen empathisch verstanden werden, man ihre Selbstverurteilung aber nicht teilt, sondern der intensiven inneren Auseinandersetzung der Frauen mit großem Respekt begegnet, kann die Akzeptanz ihrer eigenen Entscheidung gefördert werden. Besonders in Hinblick auf die massive Kränkung ihres Selbstgefühls, welche die werdenden Eltern mit der Mitteilung einer Erkrankung bzw. Fehlbildung ihres ungeborenen Kindes und dem Verlust des Kindes durch die Entscheidung zum Abbruch erlitten haben, ist die Wertschätzung der trauernden Eltern in ihrer Rolle als verantwortungsvolle Entscheider sehr bedeutsam. Das Erzählen aller verleugneten und geheim gehaltenen Aspekte des Abbruchs in der Therapie allein schon kann die Frauen enorm entlasten und verändert unter dem verständnisvollen Blick des Therapeuten ihre Selbstwahrnehmung.

Eine Aufgabe im Rahmen des Trauerprozesses ist es, neue Bedeutungszuschreibungen und Erklärungsmuster für das Erlittene zu finden. Der Therapeut stellt den Eltern einen Raum zur Verfügung, in dem soziokulturelle Normen zu Abbruch, Mutterschaft und Behinderung hinterfragt und aufgrund der eigenen Erfahrung neu bewertet werden dürfen. Über Methoden der kognitiven Umstrukturierung gilt es, neutralisierende Mechanismen zu etablieren, die der Wiederherstellung einer Kohärenz eines positiven Selbstbildes dienen. Beispielsweise können Frauen oder Paare zu der Überzeugung gelangen, die Entscheidung ganz im Sinne des Kindes getroffen und ihm dadurch viel Leid erspart zu haben. Ebenso hilfreich ist der Glaube an die Richtigkeit der Entscheidung, die die Ärzte so sicher empfohlen hatten oder die Überzeugung, im Sinne der eigenen Familie gehandelt zu haben (‚Wir als Familie hätten das nicht geschafft.‘) (Leichentritt et al, 2016). Zudem können im Laufe des therapeutischen Prozesses innere Werte und Überzeugungen anhand der gemachten Erfahrungen verändert werden (‚Jetzt sehe ich die Dinge anders.‘), eigene Unzulänglichkeiten und eigenes Versagen akzeptiert und das Ereignis des Schwangerschaftsabbruchs in den Lebenslauf und das Selbstkonzept der Frauen integriert werden. Indem die Trauernde im Laufe des Trauerprozesses zu einer neuen Identität findet (‚Bin ich eine Mutter? Darf ich trauern?‘) und sich mit ihrer Rolle als trauernder Mutter identifiziert, sinken ihre Schamgefühle.

Ein zentraler Wirkfaktor in therapeutischen Prozessen ist Empathie (Wampold, 2001). Empathie ist zum einen ein emotionales Antworten auf die affektiven Erfahrungen der Frauen. Die emotionale Resonanz hilft ihnen, ihre Trauer und ihr Traumaerleben zu verstehen und dadurch zu verändern. Zum anderen ist Empathie ein kognitives Einordnen des Erlebten aus der etwas anderen Sicht des Therapeuten. Die Perspektive der Frauen empathisch zu übernehmen und sie um das eigene Verständnis des Geschehenen zu erweitern, ermöglicht eine Normalisierung des Erlebten. Und Empathie setzt eine bedingungslose Akzeptanz und Wertschätzung der Frauen voraus, welche zu einer inneren Stärkung der Frauen führt (Leon, 2017).

Fragen der Pränataldiagnostik und der Indikation zum Spätabbruch, ggf. mit Fetozid, bringen uns Behandler und Begleiter an unsere inneren moralischen und emotionalen Grenzen. Frauen ziehen oft sehr gnadenlos mit sich ins Gericht über ihre getroffene Entscheidung. Für uns Behandler ist es manchmal schwierig, einen distanzierten Blick zu behalten und uns der Frau entlastend zur Verfügung zu stellen. Besonders, wenn die Prognose für das Kind weniger gravierend war, tauchen möglicherweise auch in uns Fragen innerer Verurteilung der Entscheidung zum Abbruch auf. Dann besteht die Gefahr, dass wir uns mit negativen Selbstzuschreibungen der Paare identifizieren und ihren Schuldvorwürfen wenig Hilfreiches entgegensetzen können. Die Bereitschaft der Behandler, einen Spätabbruch mit zu tragen bzw. das Paar danach zu begleiten, erfordert es, einen bewussten Umgang zu finden mit eigenen Vorbehalten. Ein möglichst offener kollegialer, interdisziplinärer Austausch, kann helfen, die kontroverse Thematik des Spätabbruchs anhand einzelner Schicksale immer wieder aus neuen Perspektiven zu betrachten.

Ich habe sehr viel Respekt vor den Frauen und ihren Partnern, die sich aufgrund des Wissens um eine schwere Anomalie ihres Kindes gezwungen sehen, sich für eine Beendigung der so erwünschten Schwangerschaft zu entscheiden und sich damit in emotionale und moralische Abgründe begeben. Die Bewältigung dieser Ereignisse ist oft – ob nun mit oder ohne therapeutische Begleitung – mit tiefgreifenden innerseelischen Transformationsprozessen verbunden. Langfristig können diese ein persönliches Wachstum und Bereicherung bedeuten, so wie wir alle an unseren Schicksalsschlägen wachsen.

Literaturangaben bei der Verfasserin erhältlich

Zu den Mitgliedern des Beirats der DGPFG

Dr. Dipl.-Psych. Annekathrin Bergner

An den Anfang scrollen