Information und Verwirrung
Die Europäische Leitlinien [2] zum MS fordern neben einer informierten Entscheidung für oder gegen die Teilnahme am MS eine minimale Teilnehmerrate von 70% der Frauen zwischen dem 50 bis 69. Lebensjahr. In dem Bemühen diese Teilnahmeraten zu erreichen – sie liegen derzeit bei maximal 56 % [1] – und auch mit den damit verbundenen wirtschaftlichen Interessen der Industrie und Diagnostikzentren [3] waren die anfänglich von den Zentren selbst erstellten Information von unausgewogener tendenziöser Qualität [4]. Sie stifteten eher Verwirrung und betonten die Vorteile, als dass sie Grundlage für eine informierte Entscheidung für die Frauen sein konnten [5].
Erst im Jahr 2014 hatte der Gemeinsame Bundesausschuss nach kritischen Veröffentlichungen in deutschen [3] [6] und internationalen Fachzeitschriften [7] [8] [9] das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) mit der Erstellung eines Einladungsschreibens und einer wissenschaftlich fundierten Information (Merkblatt) zum MS beauftragt. Ein Rapid Report wurde Anfang 2015 vom IQWIG fertig gestellt und soll jeder Einladung zum MS beigefügt werden[10]. Die Fertigstellung der Endfassung ist im 3. Quartal 2016 geplant. Erst dann erhält jede Frau mit dem Einladungsschreiben die für eine informierte Entscheidung notwendigen umfassenden Informationen.
Auch in den Medien lag besonders in den ersten Jahren der Tenor der Berichterstattung darauf, den Nutzen des MS zu betonen, mögliche Nachteile wurden eher verharmlost. Das MS wurde in der Presse beworben mit Aussagen wie: „jede 9. Frau erkrankt an Brustkrebs“ oder „die Sterblichkeit an Brustkrebs wird durch das Screening um 25% gesenkt“. Auch wenn diese Informationen nicht falsch sind, so schüren sie Ängste und zeichnen ein überzogen optimistisches Bild. Diese Zahlen allein ermöglichen weder den eingeladenen Frauen noch uns beratenden Frauenärzte/Innen, eine angemessene Risikobeurteilung [11].
Wissenswertes zum Mammographie-Screening
- von 1000 Frauen zwischen 50 und 69 Jahren erkranken jährlich 3 bis 4 an Brustkrebs
- von 1000 Frauen, die am Screening teilnehmen haben 970 ein unauffälliges Ergebnis, 30 erhalten eine Wiedereinladung zu Folgeuntersuchungen
dabei wird bei
- 24 Frauen kein Krebs gefunden, bei
- 6 Frauen bestätigt sich der Karzinom-Verdacht
- 2 Mammakarzinome treten im Intervall bis zur nächsten Screening-Untersuchung auf.
Wenn 1000 Frauen über 10 Jahre am MS teilnehmen, sterben 1 bis 3 Frauen weniger an Krebs, bei 4 bis 7 Frauen führt die Untersuchung zu einer Überdiagnose!
Und dennoch:
Eine adäquate Risikoeinschätzung ist und bleibt auch zehn Jahre nach Einführung des MS in Deutschland offenbar schwierig zu vermitteln [5], [12]. Eine Befragung [13] von Frauen im Alter von 50 bis 69 Jahren zeigt, dass jede zweite Frau das Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, um das 10fache überschätzt. Die Angst an Brustkrebs zu erkranken führt bei nicht wenigen Frauen dazu, dass sie aus Furcht einen Knoten zu tasten sogar ihre Brüste nicht anfassen können.
Die Mehrheit der Frauen aber schafft es im täglichen Leben, die Angst vor Krankheit und Krebs zu bewältigen. Meistens werden die beängstigenden Gefühle der Verletzbarkeit des eigenen Körpers und die potenzielle Krankheitsgefahr verdrängt, auch Bagatellisierungen und Verleugnungen sind anzutreffen. Diese psychische Kompensation bricht meist abrupt zusammen, wenn eine Freundin oder ein Familienmitglied die Diagnose Brustkrebs erhält.
Seit Einführung des MS wird nun jede Frau mit Eintreffen des Einladungsschreibens mit der verdrängten Gefährdung unfreiwillig konfrontiert.
Akt: Die Einladung
Schon der Erhalt des Einladungsschreiben zum MS bedeutet für viele Frauen eine emotionale Belastung: die latente Angst vor Krebs wird getriggert. Dies bestätigt die Untersuchung von der Bertelsmann-Stiftung und der Barmer-GEK [14]. Auch wenn der angebotene Untersuchungstermin von 83 % der Frauen in der o.g. Studie begrüßt wird, so reagieren manche Frauen (14 %) darauf regressiv: sie erleben die einladende Institution paternalistisch und den Termin als verpflichtende Aufforderung („Da muss ich hingehen“). Begleitet ist dies von der Angst vor Schuldgefühlen („ …ich würde es mir nicht verzeihen, wenn bei mir später dann doch ein Krebs auftritt und es dann heißt: wären Sie mal zum MS gekommen…“) Gelegentlich befürchten Frauen auch andere negative Auswirkungen bei Nichtteilnahme: z. B. dass die Krankenkasse bei späterer Erkrankung die Behandlung nicht mehr zahlt.
Akt : Die Entscheidung
Die Entscheidung zur Teilnahme am MS wird von den meisten Frauen nicht aufgrund sachlicher Information getroffen, sondern von Bedeutung sind dabei viele Aspekte irrationaler Risikobewertung und emotionaler Bedürfnisse [4].
Das Bedürfnis nach der Sicherheit keinen Brustkrebs zu haben, ist für die meisten Frauen ein wichtiger Grund, an der Früherkennnungsuntersuchung teilzunehmen. 84 % der Frauen fühlen sich beruhigt, wenn sie nach der Untersuchung wissen, dass alles in Ordnung ist [14] und 64 % stimmen der Aussage zu: „ich habe das Gefühl, etwas Gutes für mich zu tun“.
Viele Frauen der Zielgruppe haben auch irrationale Vorstellungen vom Nutzen des MS. So glauben 30 % der Frauen, dass schon die Teilnahme am MS verhindere, dass sie ein Mammakarzinom entwickeln [14].
In einer kleinen eigenen Studie stimmten 53 % der Frauen der Aussage zu, dass das MS das Risiko an Brustkrebs zu erkranken reduziert, bzw. die Erkrankung verhindern können [13].
Die Nichtteilnahme am Screening begründete ein Teil der Frauen mit den Bedenken bezüglich der Strahlenbelastung, sowie der Angst vor möglichen Schmerzen bei der Untersuchung [13].
Akt: Der Termin
In den Tagen vor dem Termin zur Mammographie berichten Frauen von innerer Anspannung und Schlafstörungen bis hin zu Albträumen, die oft die Auseinandersetzung mit dem Thema Brustkrebs beinhalten. Es wird auch die Sorge geäußert, dass die Untersuchung schmerzhaft sein könnte.
Akt: Das Ergebnis
Zurück zu Frau R.: drei Wochen nach dem MS berichtet Frau R., dass sie die Woche nach der Untersuchung in der sie auf den Brief mit dem Untersuchungsergebnisgewartet habe, sehr mitgenommen habe. Sie konnte sich nur noch schwer auf ihre Arbeit konzentrieren und fühlte sich reizbarer, irgendwie dünnhäutiger. Als dann endlich die Nachricht vom Mammographie-Zentrum eintraf, dass bei ihr keine Auffälligkeiten zu sehen seien, sei ihr ein Stein vom Herzen gefallen. Dennoch ist Frau R. selbst verwundert, wie stark sie die Wochen von der Einladung zum MS bis zu dem Ergebnis doch belastet haben, obwohl sie doch sonst eine rationale Frau sei.
Diese persönliche Aussage stimmt mit der Bertelsmann-Studie überein: Nach der Früherkennungs-Mammografie sind 38 % der Frauen sehr beunruhigt, bis sie über das endgültige Ergebnis informiert werden [14].
Auch internationale Studien untermauern diesen Aspekt: Der Brief mit dem Untersuchungsergebnis wird von vielen Frauen ängstlich erwartet. Die Wartezeit wird als sehr belastend erlebt [15].
Akt: weitere Abklärungsuntersuchungen
Eine neue Patientin, Frau S., 56 Jahre, bejaht bei der Erstanamnese meine Frage nach der bisherigen Teilnahme am Mammographie Screening. Aber sie fügt dann hinzu: “ … da gehe ich nicht noch mal hin. Die haben da erst was gefunden und ich musste noch mal zu weiteren Untersuchungen. Das hat mir fast den Boden unter den Füßen weggerissen. Meine Gedanken kreisten nur noch darum, auf nichts anderes konnte ich mich mehr konzentrieren, nachts habe ich nicht mehr geschlafen aus Angst vor dem, was auf mich zukommt. Aber dann haben sie doch nichts gefunden, alle Aufregung umsonst… Dennoch hat mir die Entwarnung meine innere Ruhe nicht wiedergegeben.“
Die weitere Exploration zeigte, dass Frau S. in mehrfacher Weise durch einen frühen Tod ihres Vaters in der Kindheit und den plötzlichen Herztod ihres Ehemanns drei Jahre zuvor psychisch vorbelastet war. Die Konfrontation mit Ungewissheit und Abhängigkeit reaktualisieren in dieser Situation Erfahrungen von Ohnmacht und Hilflosigkeit.
Es ist davon auszugehen, dass traumatisierte und anderweitig psychisch vorbelastete Menschen intensiver von den psychischen Begleitwirkungen im Kontext des MS betroffen sind [8]. Das kann wie bei Frau S. die Lebensqualität, die Arbeitsfähigkeit und auch die Compliance bezüglich der geplanten 20 Untersuchungsjahre gefährden.
Die Häufigkeit auffälliger Befunde beim MS wird mit ca. 30 bei 1000 durchgeführten Untersuchungen angegeben. Die Notwendigkeit weiterer Abklärungsuntersuchungen schätzt nur jede vierte Frau bei Befragung vor dem MS richtig ein [13]. Die Mehrheit der Frauen unterschätzt die Wahrscheinlichkeit einer Wiedereinladung zur Klärung von Auffälligkeiten dagegen deutlich. 36 % der befragten Frauen (n=1780) meinen, dass es nach einer Früherkennungs-Mammografien nur selten es zu einem falschen Verdacht auf Brustkrebs kommt [16]. Diese Fehleinschätzung führt dazu, dass es viele Frauen vorher gar nicht in Betracht ziehen, zu weiteren Untersuchungen aufgefordert zu werden. Daher trifft sie dieses Wiedereinladungsschreiben emotional unvorbereitet und für viele Frauen ist die Nachricht unmittelbar mit der Gewissheit verbunden: „nun hat man Krebs bei mir gefunden“. Der Hinweis im Anschreiben zur Nachuntersuchung, dass Zusatzuntersuchungen auch bei gutartigen Veränderungen gelegentlich erforderlich sind, beruhigt sie wenig bzw. wird oft gar nicht mehr wahrgenommen.
Frau S., die unglücklicherweise ihre Ergebnismitteilung auch noch an einem Freitagnachmittag aus dem Postkasten zog, war aufgebracht:
„Was denken sich die Briefschreiber dabei? Soll dies eine Beruhigung sein? Bei mir kamen gerade durch die Formulierungen alle Ängste hoch. Ich habe sofort versucht die Ärztin des Screening Zentrums zu erreichen, aber das war erst in drei Tagen möglich. Die Helferin konnte gar keine Beruhigung geben. So geht das doch nicht! Man kann nicht an einem Freitag eine solche Information bekommen und niemand ist mehr ansprechbar!“